Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
verhalten, als lebte er noch. Und um die Mutter ist es noch schlimmer bestellt. Sie rennt jeden Tag in die Kirche und hat sich sogar taufen lassen. Die Wohnung gleicht einem Mausoleum, alle Wände sind vollgehängt mit Andrjuschas Bildern und Fotografien, in diesem Mausoleum kultivieren sie ihren Schmerz, auf daß er wachse und gedeihe. Und ich ertrage das alles seit neun Jahren, weil Lisa mir so schrecklich leid tut. Ihr Bruder war ein geniales Kind, er malte nicht nur außerordentliche Bilder, sondern schrieb auch großartige Gedichte. Lisa war die Schwester eines Wunderkindes, und auch dazu braucht man ja Talent. Sie hatte unendliche Geduld im Umgang mit ihrem Bruder, sie wußte, wie sie ihn behandeln mußte, wenn er in einer Krise den Pinsel auf den Boden schleuderte und schrie, er sei nichts weiter als ein jämmerlicher Schmierfink, er würde nie wieder eine Leinwand anrühren. Der Junge war ihr Leben, ihm galten alle ihre Hoffnungen, sie atmete durch ihn, und hätte sie nun der Tatsache zugestimmt, daß er für immer aus der Welt verschwunden war, wäre das gleichbedeutend gewesen mit ihrem eigenen Tod. Arme Lisa, mein armes, verrücktes Mädchen.
»Ich glaube, es geht darum, daß die Blumen blau sind«, fuhr sie fort, ohne zu bemerken, daß Sotnikow ihr kaum zuhörte. »Erinnerst du dich an das Porträt, das Andrjuscha von mir gemalt hat? Auf diesem Porträt trage ich ein Prinzessinnenkostüm mit blauen Blumen darauf. In Wirklichkeit waren die Blumen rosafarben, aber er hat sie blau gemalt, weil es ihm so besser gefiel. Erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich«, sagte Dmitrij mit einem Lächeln. Das Porträt war ein Meisterwerk.
»Auf einer Ausstellung hat irgendein Ausländer das Bild gesehen«, erinnerte sie sich, immer lebhafter werdend, »er wollte es kaufen, aber Andrjuscha hat gesagt, es sei das Porträt seiner Schwester, seiner Prinzessin. Es sei unverkäuflich, weil seine Lisa immer in seiner Nähe bleiben müsse.«
Ihre Stimme begann zu beben, Tränen liefen über ihre Wangen. Dmitrij setzte sich neben sie auf die Sessellehne, umarmte sie und zog ihren Kopf an seine Brust. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihr gut zuzureden, man mußte einfach abwarten, bis sie zu weinen aufhörte.
»Erinnerst du dich, wie wir einmal genauso wie jetzt im Atelier saßen«, schluchzte Lisa, »du hast mir übers Haar gestrichen und gesagt, daß Andrjuscha ein außergewöhnliches Talent sei, daß man seine Bilder in Paris ausstellen würde. Und wir würden mit ihm nach Paris fahren, hast du gesagt, und zusammen auf den Champs-Elysees Spazierengehen.«
»Natürlich erinnere ich mich«, sagte Sotnikow leise. In Wirklichkeit erinnerte er sich an nichts dergleichen, aber es war gefährlich, Lisa zu widersprechen.
»Ich war sechzehn Jahre alt und bis über beide Ohren in dich verliebt. Aber du hast es nicht bemerkt, stimmt’s?«
»Stimmt. Du warst damals ein schrecklich liebes kleines Mädchen, und ich war der Lehrer deines Bruders, mit siebenundzwanzig Jahren war ich im Vergleich zu dir alt und sehr solide.«
»Als du mich umarmt und von Paris gesprochen hast, blieb mir das Herz stehen vor Glück. Es kam mir vor wie ein Märchen. Dima, wann ist dir eigentlich klargeworden, daß du mich liebst?«
Nie, dachte Dmitrij, aber er sagte natürlich etwas ganz anderes.
Sein Verhältnis zu Lisa war sehr kompliziert und verworren. Lange Zeit hatte er sie tatsächlich als Kind betrachtet, und als erfahrener Pädagoge hatte er natürlich bemerkt, daß sie in ihn verliebt war. Doch so etwas passierte allen Lehrern, so etwas nahm man nicht ernst. Lisa begleitete ihren Bruder zum Unterricht, sie saß geduldig abseits und wartete auf das Ende der Stunde, dabei schwatzte sie leise mit Dmitrij. Manchmal bat er sie, Modell zu stehen, und sie tat das mit Begeisterung.
Nach dem Tod ihres elfjährigen Bruders setzte Lisa ihre Besuche bei Sotnikow fort, als sei nichts geschehen. Sie sprach von Andrej, von seinen Bildern und Gedichten. Am Anfang war Dmitrij sicher, daß die Wunde mit der Zeit verheilen, daß Lisa ihre bedrückenden Besuche nach und nach einstellen würde, doch es vergingen Monate, schließlich Jahre, und wenn Lisa nicht gerade in der Klinik war, erschien sie nach wie vor jeden Donnerstag bei ihm in der Schule. Als er begriff, wie es um sie stand, war es schon zu spät. Was hätte er ihr sagen sollen? Daß sie ihn von jetzt an nicht mehr besuchen durfte? So etwas sagte man entweder gleich oder nie. Er war in eine
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