Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
naturgegebenen Merkmale ihrer äußeren Erscheinung offenbart, als er ihr erklärte, ihr farbloses, nichtssagendes Gesicht sei wie eine Leinwand, auf die man ein beliebiges Bild malen könne, abgrundtief häßlich oder blendend schön. Man konnte sich schminken, die Haare färben, sich neue Frisuren ausdenken, die Augenfarbe wechseln, den Gang, die Stimme, die Gestik. Das alles wußte Nastja, das hatte sie schon in früher Jugend gelernt, und ihre Mutter schickte ihr aus dem Ausland verschiedenfarbene Kontaktlinsen und alle Arten von Kosmetik. Insofern beherrschte sie die Kunst, sich ein äußeres Image zu schaffen, nicht schlechter als Dascha, die angehende Visagistin. Nur daß sie diese Kunst im Alltag so gut wie nie anwandte, weil es ihr völlig gleichgültig war, wie sie aussah und ob sie den Männern gefiel. Ihr Interesse galt kniffligen Kriminalfällen.
Nastja warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann sah sie durch das Schaufenster nach draußen. Lesnikows funkelnder BMW stand ganz in der Nähe und war gut zu sehen.
»Ich habe das Gefühl, daß unsere Unterredung sich noch länger hinziehen wird«, sagte sie. »Ich werde meinem Chauffeur sagen, daß er nach Hause fahren kann, und komme gleich wieder.«
Nastja ging zum Auto und öffnete die Beifahrertür.
»Danke, Igor, du hast mir sehr geholfen. Sieh bitte mal über meine Schulter ins Schaufenster. Siehst du das Mädchen?«
»Die Blonde? Ja, die sehe ich.«
»Schaut sie zu uns herüber?«
»Nein, sie steht mit dem Rücken zu uns.«
»Steig doch bitte einen Augenblick aus«, bat Nastja, »ich kann nicht in gebückter Haltung stehen, mein Rücken tut weh.«
»Du könntest dich auch neben mich ins Auto setzen.«
»Nein, ich möchte, daß sie mich zusammen mit dir und dem Auto sieht. Ich spiele eine wohlhabende, etwas wunderliche Dame.«
Igor stieg aus und blickte zum Schaufenster.
»Wie findest du sie?« fragte Nastja neugierig. Sie wollte so schnell wie möglich in das Geschäft zurückkehren und ihr Experiment mit dem undurchsichtigen, verdächtigen Mädchen fortsetzen.
»Sie ist in die andere Abteilung hinübergegangen, jetzt spricht sie mit einer anderen Verkäuferin, geht zu den Schaufensterpuppen«, kommentierte Lesnikow mit gedämpfter Stimme. »Sie nimmt den Schaufensterpuppen die Perücken ab, eine, zwei, drei, vier, spricht wieder mit ihrer Kollegin, geht zurück in ihre Abteilung, legt die Perücken auf den Tisch. Jetzt hat sie sich umgedreht und sieht zu uns her.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Sie lächelt.«
»Lächelt sie dir etwa zu?«
»Nein, irgendwelchen eigenen Gedanken. Sie sieht sehr versonnen aus.«
»Beobachtet sie uns immer noch?«
»Ja. Ich glaube, sie studiert dich von Kopf bis Fuß.«
»Gut, es reicht«, beschloß Nastja. »Das schöne Auto mit dem schönen Fahrer hat sie gesehen, jetzt kann ich wieder hineingehen. Mach’s gut, Igor!«
Als Nastja ins Geschäft zurückkehrte, sah sie sofort, daß auf dem Ständer neben dem Verkaufstisch verschiedene Kostüme hingen. Sie erinnerte sich genau, daß dieser Ständer vorher leer gewesen war.
»Alles in Ordnung?« erkundigte sich die Verkäuferin mit einem freundlichen Lächeln. »Dann machen wir jetzt weiter, falls Sie es sich nicht anders überlegt haben. Ich habe ein paar Kostüme und Perücken für Sie ausgesucht, damit wir ausprobieren können, welchen Typ Sie darstellen wollen. Ich schlage Ihnen einen platinblonden Typ in Verbindung mit olivgrünen Farbtönen vor oder einen mittelbraunen in Verbindung mit grauen und blaßlila Tönen.
»Worin besteht der Unterschied?« fragte Nastja wie bei einem Examen. Sie wußte bestens, worin der Unterschied bestand, aber sie wollte Daschas Antwort hören.
»Eine Blondine in Verbindung mit olivgrünen Farbtönen stellt den Typus einer Frau mit Vergangenheit dar, einer Frau, die geliebt und gelitten hat, die nach außen kühl und beherrscht wirkt, aber im Innern voller Leidenschaft ist. Mittelbraunes Haar in Kombination mit grauen und blaßlila Tönen ergibt das Bild einer weichen, umgänglichen, gutherzigen, häuslichen Frau mit offenem, sanftem Charakter. Wählen Sie.«
Nach einer Stunde verließ Nastja das »Orion« mit einem Kostüm aus olivgrüner Seide und dem dumpfen Gefühl, daß die blauäugige, goldhaarige Dascha Sundijewa ein sehr viel komplexeres Geschöpf war, als selbst der voreingenommenste und argwöhnischste Richter hätte annehmen können. Kluge und scharfsinnige Menschen waren selten offenherzig und
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