Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
geschehen. Und inzwischen denke ich, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich nicht wieder geheiratet hätte. Mein Sohn hat sich völlig in sich verschlossen, er spricht kaum noch mit mir, und in Anwesenheit meines Mannes schweigt er grundsätzlich. Er mag ihn nicht. Und ich bin strenger mit ihm geworden, weil ich sicher war, daß er den Brief geschrieben hatte . . . Jedenfalls, ich habe einen Ehemann gewonnen und, wie es scheint, meinen Sohn verloren.«
Sie begann, leise zu weinen.
»Mein Sohn ist fünfzehn, ein schwieriges Alter, Sie wissen selbst. Ich hätte das nicht tun dürfen . . .«
»Jetzt hat sich ja alles aufgeklärt«, sagte Nastja. »Jetzt wissen Sie, daß er den Brief nicht geschrieben hat. Vielleicht läßt sich jetzt wieder alles einrenken, wenn Sie sich darum bemühen.«
»Nein.« Die Frau trocknete sich die Tränen. »Jetzt läßt sich nichts mehr einrenken. Er hat sich weit von mir entfernt, ist mir ganz fremd geworden. Und alles wegen dieses verfluchten Briefs.«
Nach diesem Gespräch konnte Nastja sich lange nicht beruhigen. Am späten Abend, auf dem Heimweg, erinnerte sie sich noch einmal an die unglückliche Frau und ihre zerstörte Beziehung zu ihrem fünfzehnjährigen Sohn.
»Was für eine schmutzige Moral muß doch ein Mensch haben, der so etwas tut«, sagte sie zu Anton. »Er macht den Leuten reihenweise das Leben kaputt. Hat er denn kein Mitleid mit ihnen?«
»Haben Sie nicht bemerkt, daß jeder von ihnen eine Leiche im Keller hat?« fragte Anton, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Nicht eine der neunzehn Frauen hat sich an die Miliz gewandt, nicht eine hat sich über den Drohbrief gewundert. Bei jeder von ihnen gibt es etwas in Vergangenheit oder Gegenwart, das sie annehmen läßt, den Drohbriefschreiber zu kennen. Eine wunderbare soziologische Studie, nicht wahr? Neunzehn Versuche, neunzehn Treffer.«
»Aber wie können Sie so etwas sagen, Anton?« entrüstete sich Nastja. »Und diese Frau mit ihrem Sohn? Worin besteht denn ihre Schuld?«
»Ihre Schuld besteht darin, daß sie ihren Sohn ihrer neuen Ehe geopfert hat. Sie hat doch gewußt, daß er gegen die Heirat war, daß er ihren zukünftigen Mann nicht mochte. Und sogar nachdem sie den Brief erhalten hatte und der Überzeugung war, daß er von dem Jungen stammte, ließ sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Und jetzt rauft sie sich die Haare, weil sie ihr Kind verloren hat. Sie hätte vorher darüber nachdenken müssen, wer ihr wichtiger ist, ihr Sohn oder ein Ehemann.«
»Ich weiß nicht, Anton«, sagte Nastja nachdenklich. »Mir tun sie alle schrecklich leid, besonders diese Frau.«
»Hören Sie doch auf mit Ihrem Mitleid, Nastja! Sie sind alle wohlauf und am Leben, niemandem ist ein Ziegel auf den Kopf gefallen, niemandem ist das Haus abgebrannt. Und daran, daß ihre Beziehungen kaputtgegangen sind, sind sie selbst schuld. Hätten sie nicht gelogen und betrogen, hätten sie ihre Kinder und Eltern geliebt und geschätzt, wären sie mit dem Drohbrief zur Miliz gegangen, und die Sache hätte sich erledigt.«
»Glauben Sie?« fragte sie zweifelnd.
»Ich bin überzeugt davon. Wissen Sie, warum die Menschen in Schwierigkeiten geraten? Weil sie Geheimnisse haben. Und sie haben Geheimnisse, weil sie genau wissen, daß sie falsch gehandelt, daß sie sich schuldig gemacht haben.«
»Das klingt logisch«, sagte Nastja. »Und wie steht es mit Ihnen? Haben Sie keine Geheimnisse?«
»Nicht eins, in mir können Sie lesen wie in einem offenen Buch. Und Sie?«
Nastja begann zu lachen.
»Wissen Sie, mir wird erst in diesem Moment klar, daß ich die einzige bin, die den Drohbrief an den Untersuchungsführer weitergegeben hat. Wenn auch aus anderen Gründen, aber immerhin. . . Also können wir davon ausgehen, daß ich keine Geheimnisse habe.«
* * *
Larissa streckte ihr angeschwollenes Bein aus und stöhnte leise auf vor Schmerz. Sie versuchte, sich so still wie möglich zu verhalten, um ihren Peiniger nicht auf sich aufmerksam zu machen, aber das Stöhnen hatte sie nicht zurückhalten können. Der Mann, der vor dem Fernseher saß, wandte sich zu ihr um.
»Nun, hast du es dir überlegt, du kleine Dreckschlampe?« fragte er hämisch.
»Laß mich gehen, bitte, laß mich gehen«, flehte Larissa. »Ich weiß wirklich nicht, wo Sergej ist.«
»Solange dein Sergej hier nicht aufgetaucht ist, bleibst du da, wo du bist.«
»Bitte . . .«
Der Mann wandte sich wieder der Übertragung eines Basketballspiels im
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