Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
Unabhängigkeitsdrang nimmt beleidigende Formen an«, sagte Tschistjakow lachend, aber sein Gesicht verdüsterte sich, und Nastja sah, daß er gekränkt war.
Sie wollte ihm etwas Liebevolles sagen, um die Wogen zu glätten, aber in diesem Moment läutete das Telefon.
Jura Korotkow war am Telefon, und seine Stimme klang seltsam.
»Nastja, bist du nüchtern?« fragte er.
»Du beleidigst mich«, sagte sie scherzhaft, »hast du schon einmal erlebt, daß ich nicht nüchtern war?«
»Du hast bis heute auch noch nie geheiratet. Kannst du mir zuhören, oder soll ich dich heute nicht belästigen?«
»Belästige mich. Gibt es Neuigkeiten?«
»Und was für welche. Sitzt du oder stehst du?«
»Ich stehe.«
»Dann setz dich hin.«
Nastja zog die Telefonschnur bis zum nächsten Sessel und machte es sich bequem.«
»Ich sitze.«
»Heute um zehn Uhr wurde auch im Standesamt von Kunzewo eine junge Braut erschossen. Ich habe es eben erst erfahren. Die Kollegen vom Bezirk sind zum Tatort gefahren, einen Einsatztrupp von der Petrowka hat man nicht angefordert.«
»Wie bitte?«
»Wart ab, Nastja, das ist noch nicht alles. Eine der jungen Bräute dort hat ausgesagt, daß sie gestern, am Vorabend ihrer Hochzeit, einen Brief in einem weißen Kuvert ohne Absender bekommen hat. Ahnst du, was in dem Brief stand?«
»Das kann nicht sein.« Nastja konnte nur noch flüstern, sie war plötzlich heiser und mußte krampfhaft husten. Hier ging es ganz offensichtlich um mehr, als sie ursprünglich angenommen hatte.
»Jura, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Zwei gleiche Briefe und zwei völlig gleiche Morde? Beide an ein und demselben Tag, und beide Male wurden nicht die Personen erschossen, die den Brief erhielten? Das kann nicht sein. So etwas gibt es nicht.«
»Meine liebe Freundin, du widersprichst dir selbst«, bemerkte Korkotkow. »Gerade du bist es doch, die ständig predigt, daß wir als Kriminalisten nichts ausschließen dürfen. Es gibt alles im Leben, alles ist möglich.«
»Du hast recht. Es gibt alles im Leben«, sagte sie nachdenklich. »Aber für alles existiert eine Erklärung. Man muß sie nur finden.«
»Richtig. Fang an, sie zu suchen.«
»Was ist mit Schewzow? Hat er die Fotos entwickelt?«
»Ja, hat er. Möchtest du sie sehen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Am besten gleich morgen. Kannst du sie mir vorbeibringen?«
»Das kann ich tun, aber ich habe Angst, daß dein frischgebackener Ehemann mich umbringt.«
»Das wird er nicht tun. Komm im Laufe des Vormittags, so gegen elf.«
»Abgemacht.«
Nastja legte den Hörer auf und blieb wie erstarrt im Sessel sitzen. Einen Mord hätte man für einen Irrtum des Täters halten können, für eine Verwechslung. Aber gleich zwei Irrtümer auf einmal? Zwei identische Fehler an ein und demselben Tag – war das nicht etwas viel? Aber wenn es sich nun gar nicht um einen Irrtum handelte? Wenn das alles nicht mehr und nicht weniger war als ein geschicktes Täuschungsmanöver? In diesem Fall mußte man davon ausgehen, daß der Täter nur eine der beiden Frauen gemeint hatte, und der ganze Rest diente dazu, die Tat zu verschleiern, die Miliz zu irritieren. Allerdings bedurfte so ein Plan äußerst sorgfältiger Vorbereitung und war mit enormem Aufwand verbunden.
Und wenn es nun doch beide Male ein Irrtum war? Konnte es dafür eine Erklärung geben? Wenn ja, dann mußte es irgendeine Querverbindung zwischen ihr, Nastja, und dem zweiten Mädchen geben, das genau denselben Drohbrief erhalten hatte.
Sie war so in Gedanken vertieft, daß sie gar nicht bemerkte, daß Tschistjakow das Zimmer betreten hatte.
»Ist etwas passiert?«
»Ja. Noch ein Mord auf dem Standesamt. In Kunzewo. Ljoscha, schalte mal dein Gehirn ein, ja?«
»Eingeschaltet. Gib mir den Input.«
»Nur reg dich bitte nicht auf, versprochen?«
»Ich werde mir Mühe geben.«
»Stell dir vor, daß anstelle von Galina Kartaschowa ich umgebracht werden sollte. Was meinst du, könnte der Täter sich geirrt haben? Könnte er mich mit dieser Frau verwechselt haben?«
»Nastja, du machst mir Angst. Wie kommst du auf eine so grauenhafte Idee?«
»Das spielt jetzt keine Rolle. Ich kann mich ja nicht selbst sehen, deshalb frage ich dich, ob zwischen mir und jenem Mädchen irgendeine Ähnlichkeit besteht.«
»Ich verstehe nicht. . .«
»Gut, ich werde es dir erklären. Heute morgen habe ich einen Drohbrief bekommen, und ich gehe davon aus, daß derjenige, der ihn geschrieben hat, weiß, wie ich aussehe. Er kann aber nicht
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