Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
einfach nicht möglich, dass sie mich aufgespürt haben«, sagte er mit Nachdruck.
»Und?«
»Sie müssen Ihnen gefolgt sein. Dabei habe ich Ihnen ausdrücklich gesagt, dass es gefährlich ist, meinen Namen zu tragen. Oder sind Sie so mutig und fürchten sich vor gar nichts?«
Nastja sah ihn überrascht an und brach in Gelächter aus.
»Worüber freuen Sie sich so?«, fragte Pawel missbilligend. »Ich sehe keinen Grund zur Heiterkeit.«
»Das kommt daher, dass Sie noch nie richtig Angst gehabt haben. . .«
* * *
»Das kommt daher, dass Sie noch nie richtig Angst gehabt haben«, hatte sie erwidert.
Pawel war zusammengezuckt. Bereits zum zweiten Mal hörte er diesen rätselhaften Satz von ihr. Das erste Mal hatte sie ihn in Uralsk gesagt, im Supermarkt. Schon damals hatte Pawel fragen wollen, was sie damit meinte, aber er war nicht mehr dazu gekommen, weil sie genau in diesem Augenblick zahlen mussten.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er.
»Jemand, der wirkliche Angst kennt, besitzt die Fähigkeit, sich in jedem Augenblick darüber zu freuen, dass er noch am Leben ist. Uns beiden ist es eben gelungen, diese halsbrecherische Autofahrt zu überleben, und darum freue ich mich.«
»Sind Sie sehr erschrocken?«
»Ja, sehr«, gestand Anastasija.
Sie wühlte in ihrer Handtasche und suchte nach Zigaretten, Pawel sah schweigend in die Dunkelheit vor dem Autofenster. Sollte sie wirklich Recht haben? Hatte er wirklich noch nie echte, lähmende, tödliche Angst um sein Leben gehabt?
Wahrscheinlich war es so. Lange Zeit hatte er in der Gewissheit gelebt, dass ihm nichts Böses widerfahren konnte. Die Spielgefährten seiner Kindheit fielen ständig hin, verletzten sich, brachen sich einen Arm oder ein Bein, aber ihm geschah nie etwas dergleichen. Seine Mutter sagte, er hätte einen Schutzengel. Selbst in der Psychiatrie hatte sein Schutzengel ihn davor bewahrt, den Verstand zu verlieren und zum Krüppel zu werden. Aber die Frau neben ihm schien ganz anders zu sein. Sie saß schweigend da, rauchte, und Pawel sah, wie ihre Finger zitterten.
Waren diese beiden Männer wirklich hinter ihr her? Er hätte sich gern eingeredet, dass sie selbst schuld war, weil sie sich diesen falschen Pass mit seinem Namen besorgt hatte. Aber in Wirklichkeit war sie nicht schuld. Sie hatte es ja nicht wissen können. Minajew hätte sie warnen müssen, aber aus irgendeinem Grund hatte er das nicht getan. Warum? Hatte er nicht daran gedacht? Aber letzten Endes musste Pawel Sauljak sich sagen, dass er selbst schuld war. Hätte er all die Jahre nicht das getan, was er getan hatte, wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Frau zu verfolgen, die seinen Namen trug. Er musste etwas für sie tun. Sie hatte ihn gerettet, jetzt war er an der Reihe. Nachdem er schon Rita nicht hatte retten können . . . War er schuld an ihrem Tod? Nein, das konnte nicht sein. Irgendein dummer Zufall. Vielleicht ein Raubüberfall, vielleicht eine Vergewaltigung. Mit ihm, Pawel, hatte das nichts zu tun. Wenn man ihn selbst bis jetzt nicht aufgespürt hatte, dann konnte man auch Rita nicht aufgespürt haben. Niemand wusste von ihrer Verbindung zu ihm. Und Rita hatte immer dafür gesorgt, dass keiner, zu dem sie in seinem Auftrag Kontakt aufnahm, sich an ihr Äußeres erinnern konnte.
»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte er Nastja.
»Nach Hause fahren.«
Ihre Stimme klang ruhig und gelassen, aber die Anspannung war trotzdem nicht zu überhören.
»Haben Sie keine Angst?«
»Doch, aber was ändert das? Ich kann ja nicht ewig hier in Ihrem Auto sitzen bleiben. Ich muss nach Hause fahren, und morgen muss ich wieder zur Arbeit gehen.«
»Ich werde Sie nach Hause bringen.«
»Ja, das wäre nett. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind und wie ich von hier aus nach Hause finde.«
»Wohnen Sie allein?«
»Im Moment bin ich allein, ja.«
»Das heißt, zu Hause erwartet Sie niemand?«
»Nein. Wollen Sie wissen, ob jemand da ist, der mir helfen kann, wenn es gefährlich werden sollte?«
»Ja, so ungefähr . . .«
»Nein. Mein Mann kommt erst in ein paar Tagen wieder zurück. Er ist zur Zeit bei seinen Eltern.«
»Was halten Sie davon, wenn ich Sie an einen anderen Ort bringe, zu Ihren Eltern zum Beispiel, bei denen Sie übernachten können?«
»Nein, auf keinen Fall. Sie würden gleich merken, dass bei mir etwas nicht in Ordnung ist.«
»Wir könnten zusammen zu mir fahren. Niemand weiß, wo ich wohne.«
»Und morgen früh fahren Sie mich zur Arbeit? Pawel, Sie
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