Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
mich nicht anzulügen.«
»Sie haben alles vergessen«, sagte er mit unverändertem Ernst.
»Woran sollte ich mich denn erinnern?«
»An das, was ich Ihnen gesagt habe. Ich werde Sie nie kränken.«
Er schloss erneut die Augen, lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust. Einen Moment lang hatte Nastja das Gefühl, dass die Reise von Samara nach Moskau noch andauerte und völlig unklar war, ob und wann sie enden würde. Alles war noch genauso wie damals: Pawels Körperhaltung, die undurchdringliche Maske seines Gesichts mit den geschlossenen Augen, die Mauer des Misstrauens, die zwischen ihnen stand.
Sie löste sich aus der Erstarrung, verließ das Cafe und ging ein Telefon suchen. Als sie nach etwa zwanzig Minuten zurückkehrte, saß Pawel immer noch in derselben Haltung da.
»Haben Sie in Moskau eine Bleibe?«
Er nickte wortlos, ohne die Augen zu öffnen.
»Sie müssen in Ihrer Wohnung bleiben und dürfen sie nicht verlassen. Ich habe eine Absprache getroffen. Niemand wird von Ihren falschen Papieren erfahren. Wir fahren jetzt zusammen an einen bestimmten Ort, man wird sie fotografieren, und dann fahren Sie nach Hause. Einer unserer Mitarbeiter wird gleich heute nach Belgorod fliegen und Ihr Foto den Angestellten des Hotels vorlegen, in dem Sie gewohnt haben. Wenn man Sie wieder erkennt, haben Sie Glück gehabt. Man wird Sie dann nur vernehmen, Sie werden von Ihrer Freundin erzählen müssen, man wird Sie danach fragen, wie sie gelebt hat und welche Bekannte sie hatte. Ansonsten wird Ihnen nichts geschehen.«
»Kann ich danach wieder wegfahren?«
»Ist es denn so eilig?«
»Ich kann vorläufig nicht in Moskau bleiben.«
»Haben Sie etwa Angst?«, fragte Nastja spöttisch.
»Ich will doch den Erfolg Ihrer Arbeit nicht zunichte machen«, erwiderte er ebenso spöttisch. »Sie haben mich schließlich nicht durch halb Russland geschleppt und mich meinen Feinden entrissen, damit man mich ein paar Wochen später schließlich doch noch ins Jenseits befördert.«
Sie verließen das Cafe und fuhren zur Dienststelle auf dem Nachimowskij-Prospekt, wo sie die Beamten erwarteten, die im Mordfall Rita Dugenez ermittelten.
* * *
Grigorij Valentinowitsch Tschinzow musste mit Verbitterung einsehen, dass es für ihn praktisch nichts mehr zu tun gab. Er hatte so viel Energie für Malkow investiert, und nun war alles umsonst gewesen. Schade, denn Malkow hatte gut bezahlt. Natürlich konnte Tschinzow seine Dienste auch einem Anderen anbieten, er musste nur einen finden, der zuverlässig und solvent genug war. Vor einigen Tagen hatte man ihm schon angeboten, einen großen Boss aufzusuchen, der es ebenfalls auf den Präsidentenstuhl abgesehen hatte und seine Kräfte im Wahlkampf messen wollte.
Während Tschinzow in seinem Wagen saß, dachte er darüber nach, über welche Möglichkeiten er im Moment verfügte und was er seinem neuen Herrn anbieten konnte. Schade, dass ihm Sauljak von der Angel gegangen war. Er hatte seinen Auftrag erfüllt und war angeblich weggefahren, um sich zu erholen. Zwar hatte er versprochen, nach einiger Zeit wiederzukommen, aber wann würde das sein? Malkow war der Meinung gewesen, man dürfe Sauljak nicht unter Druck setzen, man solle ihn wegfahren und sich erholen lassen. Jetzt bedauerte Grigorij Valentinowitsch diesen voreiligen Entschluss. Man hätte Pawel einen weiteren Auftrag erteilen sollen, man hätte ihn mit gutem Geld locken müssen, dann wäre er in Moskau geblieben und gezwungen gewesen, regelmäßig Kontakt aufzunehmen. Jetzt bestand keine Aussicht, ihn irgendwo zu finden. Eine schöne Dummheit, die sie da begangen hatten. Dieser Malkow mit seiner übertriebenen Vorsicht. Er hätte lieber auf seine verrückte Tochter aufpassen sollen. Das hatte er nun davon.
Am Steuer des silberfarbenen Audi saß Serjosha, einer von den beiden Männern, die Pawel in Samara aufgelauert hatten. Tschinzow fuhr nicht gern selbst Auto, er zog es vor, sich chauffieren zu lassen und währenddessen auf dem Rücksitz zu dösen. Plötzlich bremste der Wagen scharf, Grigorij Valentinowitsch runzelte ärgerlich die Stirn.
»Was ist los?«, fragte er gereizt.
»Das ist sie«, sagte Serjosha und deutete mit der Hand irgendwohin nach rechts.
»Wer?«
»Die Frau, die Sauljak in Samara abgeholt hat.«
»Wo?« Tschinzow war plötzlich hellwach.
»Dort geht sie, die Frau in der schwarzen Jacke. Sie trägt keine Mütze und betritt gerade das Geschäft dort drüben.«
»Halt sofort
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