Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
lassen. Und wie hätte er seinen Rückzug auch begründen sollen?
Es waren nicht viele Gäste anwesend, insgesamt nur drei, mit Tschinzow zusammen vier. Der Gastgeber stellte Grigorij Valentinowitsch vor und machte ihn mit seinen Gästen bekannt. Der Ausdruck ihrer Gesichter verriet Tschinzow, dass auch sie über das Interview mit Ratnikow Bescheid wussten, und ihm wurde noch mulmiger.
»Es versteht sich von selbst«, begann der Gastgeber, »dass wir die Möglichkeiten, die uns der Tschetschenienkonflikt bietet, zur Durchsetzung unserer Ziele nutzen müssen. Heute haben wir erfahren, dass Dudajew in den nächsten Tagen Groznyj stürmen will. Zu dieser Zeit wird sich dort ein hoher russischer Militär befinden. Wenn der Sturmangriff auf Groznyj in Anwesenheit dieses Truppenführers stattfindet, wird dieser keine andere Wahl haben, als das Kommando zu übernehmen und seine Fähigkeiten als Stratege und Heerführer unter Beweis zu stellen. Natürlich wird er nichts ausrichten können, und sein Ruf wird ruiniert sein, was wiederum dem Ruf der gesamten Armee schaden wird. Wenn es uns aber gelingt, seinen Ruf zu retten, wird er uns verpflichtet sein. Dazu müssen wir nur eines tun: es so einrichten, dass er wenigstens ein paar Stunden vor dem Sturmangriff Groznyj verlässt. Und dann, wenn alles vorbei ist, wird der Truppenführer erfahren, wem er es zu verdanken hat, dass er der Schande entgangen ist. Es handelt sich hier um eine sehr raffinierte Intrige, meine Herren. Sie ist vor allem psychologischer Art. Hohe Militärs sind sehr eitle Menschen, sie verzeihen es nie, wenn man ihnen Schwäche unterstellt.«
»Ich würde eine andere Variante vorschlagen«, schaltete sich ein gut aussehender, schlanker Mann von etwa fünfzig Jahren ein. Der Gastgeber hatte ihn Tschinzow als Anton Andrejewitsch vorgestellt. »Jedem ist bekannt, dass dieser Truppenführer zu den Leuten des Präsidenten gehört. Wenn es uns gelingt, einen Konflikt zwischen ihm und anderen leitenden Militärs im Verteidigungsministerium zu entfachen, werden diejenigen, die sich von ihm gekränkt fühlen, sich auch vom Präsidenten abwenden. Worauf sie sich natürlich auf unsere Seite schlagen werden, da wir genau jenes potenzielle Regime verkörpern, unter dem die Armee in großen Ehren steht. Aber ich bin damit einverstanden, dass wir die Ereignisse rund um den Sturm auf Groznyj für das Anfachen des Konflikts ausnutzen.«
»Haben Sie schon einen Plan?«, erkundigte sich der Gastgeber.
»Im Großen und Ganzen schon«, bejahte Anton Andrejewitsch. »Aber dazu brauchen wir einen Mann aus Dudajews Militärstab. Haben wir den?«
»Wir werden einen finden«, lächelte der Gastgeber. »Aber verraten Sie uns Ihren Plan.«
»Die russischen Geheimdienste haben, wie Sie wissen, in Erfahrung gebracht, dass der Sturmangriff auf Groznyj ursprünglich für den 23. Februar geplant war. Die Truppen befanden sich in Bereitschaft, aber der Angriff hat nicht stattgefunden. Aus Dudajews Feldstützpunkt sickerte durch, dass der Angriff auf den 10. März verschoben wurde. Diese Information haben die Geheimdienste an die Armeeleitung weitergegeben. Wir müssen also Dudajew dazu bringen, den Angriff früher zu starten, und wir müssen den genauen Zeitpunkt wissen. Es muss ein Tag sein, an dem sich unser Truppenführer in Tschetschenien befindet. Einige Stunden vor Beginn des Angriffs wird er von dort abreisen. Das müssen wir natürlich sehr vorsichtig einfädeln. Ich nehme an, dass uns in dieser Hinsicht Herr Tschinzow einen unschätzbaren Dienst erweisen wird. Als zweiten Schritt wird einer unserer führenden Politiker öffentlich bekannt geben, dass der Aufklärungsdienst des Verteidigungsministeriums in dieser Situation komplett versagt hat. Und danach lassen wir durch die Presse andeuten, dass im Gegensatz dazu die Geheimdienste sehr gute Arbeit geleistet und genaue Informationen über den Zeitpunkt des Angriffs geliefert haben. Danach wird unserem Truppenführer nichts anderes übrig bleiben, als den Aufklärungsdienst des Verteidigungsministeriums der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen. Er wird nur zwei Möglichkeiten haben: Er muss entweder seine Feigheit eingestehen oder behaupten, dass der Aufklärungsdienst versagt hat. Die erste Variante entfällt, wie uns allen klar ist. Bleibt nur die zweite. Er wird über den Aufklärungsdienst herfallen, er wird verlangen, dass die Verantwortlichen entlassen werden und die gesamte innere Organisation dieser Dienststelle
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