Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
er würde alle Verantwortung auf sich nehmen und die Schläge selbst einstecken. Wenn nur Anastasija nichts zustieß in diesem dunklen, unverständlichen Spiel.
SECHZEHNTES KAPITEL
Es war einer der seltenen Tage, an denen das morgendliche Aufstehen in Nastja nicht jenes Entsetzen erzeugte, das an Panik grenzte. Es wurde jetzt schon ziemlich früh hell, sodass das Aufstehen nicht mehr ganz so qualvoll war, und außerdem stand ihr am heutigen Tag der traditionelle Morgenspaziergang im Ismajlowskij-Park bevor, den sie regelmäßig zusammen mit Iwan Alexejewitsch Satotschny unternahm, dem Leiter des Hauptkomitees zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Sie kannte den General bereits seit einem Jahr, und seitdem trafen sie sich regelmäßig zu diesen gemeinsamen Spaziergängen, auf denen sie sich in aller Ruhe über Gott und die Welt unterhielten, ohne dass daraus irgendwelche Verbindlichkeiten entstanden. Nastja war bekannt, dass viele Leute von diesen Spaziergängen wussten und dass sie Anlass zu allen möglichen Gerüchten gaben, aber Iwan Alexejewitsch hatte ihr geraten, sich nicht darum zu kümmern, sondern Nutzen aus diesen Gerüchten zu ziehen.
Meistens leistete ihnen Maxim, der Sohn des Generals, Gesellschaft, der sich gerade auf die Aufnahmeprüfung an der Polizeiakademie vorbereitete. Er trieb ständig Sport, um seine Kondition zu verbessern und die Prüfung in Körpererziehung erfolgreich zu bestehen. Noch im vergangenen Sommer war er ein etwas schlaffer Halbwüchsiger gewesen, aber jetzt hatte er sich unter der unermüdlichen, gnadenlosen Kontrolle seines Vater zu einem kräftigen jungen Mann mit ansehnlichen Beinmuskeln und eindrucksvollen Bizeps entwickelt.
»Wie ich hörte, hat Konowalow versucht, Sie abzuwerben.«
Bisher hatten sie über etwas ganz anderes gesprochen, der Übergang war so abrupt, dass Nastja im ersten Moment gar nicht begriff, wovon die Rede war.
»Ja, da war so etwas«, sagte sie.
»Und Sie haben abgelehnt. Warum eigentlich? Möchten Sie nicht im Hauptkomitee arbeiten? Oder gefällt Ihnen Konowalow nicht?«
»Ich würde es anders sagen. Ich möchte in der Petrowka arbeiten, und mir gefällt Gordejew.«
»Kann ich eine Vereinbarung mit Ihnen treffen?«
»Versuchen Sie es«, lächelte Nastja.
»Wenn Sie eines Tages doch von Gordejew wegwollen, dann denken Sie vor allen anderen an mich. Abgemacht?«
»Was für einen Nutzen hätte ich für Sie, Iwan Alexejewitsch? Das organisierte Verbrechen hat sehr viel mit Wirtschaft zu tun, und davon verstehe ich nichts. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass mir dieses ganze Wirtschaftslatein zuwider ist.«
»Soll ich Ihnen beweisen, dass Sie Unrecht haben? In zehn Minuten werden Sie Ihre Meinung ändern.«
»Sie wollen wieder versuchen, mich davon zu überzeugen, dass es genügt, fünf schlaue Bücher durchzulesen, um sich die Grundkenntnisse anzueignen, und im Lauf eines Jahres lernt man dann den Rest. Aber mich interessiert diese Materie einfach nicht.«
»Geben Sie mir zehn Minuten?«
»Ich höre Ihnen zu.«
»Es ist so, Anastasija. Bei uns findet zurzeit eine groß angelegte operative Ermittlung gegen eine organisierte Bande statt, die eine Menge Geld mit dem Handel von Waffen, Narkotika und so genannter lebender Ware macht. Diese Ermittlungen laufen bereits seit einem Jahr, Sie wissen ja, dass es meistens Jahre dauert, bis man eine organisierte Bande endlich packen kann.«
»Ja, natürlich.«
»Diese Bande hat Umschlagplätze in verschiedenen Regionen. Insgesamt sind es sieben. Soll ich sie aufzählen?«
Nastja blieb abrupt stehen und sah Satotschny an.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Absolut. Soll ich Ihnen die Regionen nun aufzählen oder nicht?«
»Nicht nötig, ich glaube Ihnen aufs Wort. Heißt das, dass ich in Ihr Terrain eingedrungen bin?«
»Sie haben dort Ihre eigenen Interessen, die Serienmorde. Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, Sie konnten es ja nicht wissen.«
»Und was ist mit Konowalow? Er muss es doch wissen!«, rief sie entrüstet aus. »Wir sind in ein Territorium eingebrochen, auf dem Sie operative Ermittlungen durchführen, wir kommen Ihnen in die Quere und behindern Ihre Arbeit. Haben wir Ihnen irgendetwas vermasselt?«
»Bis jetzt noch nicht«, lächelte Satotschny. »Und Konowalow ist unschuldig. Bei uns weiß von jeher die rechte Hand nicht, was die linke tut. Wir laufen ja nicht durch die Gegend und verkünden, was wir gerade machen. Aber die Tatsache an sich ist höchst interessant,
Weitere Kostenlose Bücher