Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Hause und brütete über den Mordfällen des Henkers. Unermüdlich übertrug sie die Fakten aus den Unterlagen in ihre Tabellen, angefangen von Tatort und Tatzeit bis hin zu den Spuren, die man an den jeweiligen Tatorten gesichert hatte.
Gegen Abend waren alle Skizzen und Tabellen fertig. Nastja breitete sie in der Mitte des Zimmers auf dem Fußboden aus, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen davor und begann, das Ergebnis zu betrachten.
In puncto Tatzeit war keinerlei Systematik zu erkennen. Alle vier Morde wurden zu unterschiedlichen Uhrzeiten begangen. Auch bei der Wahl der Tatorte gab es nichts, das sich wiederholte. Über die Methode musste man nachdenken. Alle vier Opfer wurden erwürgt, und zwar nicht mit den Händen, sondern mit einem Strick. Welche Gemeinsamkeiten, gab es noch?
Etwas war auffallend. An keinem der Tatorte wurden irgendwelche Veränderungen in der Umgebung der Leiche festgestellt, es hatte in keinem der vier Fälle ein Kampf stattgefunden. Das konnte einmal bedeuten, dass die Opfer nicht an ihren Fundorten ermordet wurden. Die zweite Möglichkeit war, dass die Opfer ihren Mörder gut kannten, dass sie nichts Böses von ihm erwarteten und ihm vertrauensvoll den Rücken zukehrten.
Nastja streckte sich und blickte auf die Tabelle, aus der hervorging, um welche Uhrzeit laut Angaben der Gerichtsmediziner jeweils der Tod eingetreten war und wann man die Leichen entdeckt hatte. Dann nahm sie die Tabelle mit den Fundorten der Leichen zur Hand. Wäre es dem Mörder möglich gewesen, seine Opfer nach deren Ermordung vom Tatort an den Ort zu bringen, an dem sie später gefunden wurden?
Im ersten Fall wurde die Leiche zwanzig Minuten nach dem Mord entdeckt. Noch dazu an einem Ort, an dem sich zu dieser Zeit mindestens hundert Menschen befunden hatten. Konnte man innerhalb von zwanzig Minuten eine Leiche von einem Ort zum nächsten transportieren und dabei von so vielen Menschen unbemerkt bleiben? Ausgeschlossen.
Im zweiten Fall war der Tod des Opfers um zehn Uhr morgens eingetreten, die Leiche wurde um halb vier Uhr nachmittags in einem Kellerraum entdeckt. Würde ein Mörder seine Leiche am helllichten Tag in ein Auto laden und durch die Gegend fahren? Wohl kaum.
Die Leiche des Mannes, der den Abgeordneten und seine gesamte Familie ermordet hatte, wurde direkt in dessen Wohnung entdeckt. Der Ermordete war ein noch junger Mann, er hatte ein ziemlich unstetes Leben geführt, sodass sein Verschwinden nicht gleich bemerkt worden war. Als man seine Wohnung aufgebrochen hatte, war er bereits seit vier Tagen tot, deshalb ließ sich nicht mehr mit Genauigkeit feststellen, um welche Uhrzeit der Tod eingetreten war. Aber wenn man diesen Mann an einem anderen Ort ermordet und die Leiche anschließend in seine Wohnung gebracht hatte, dann hätte das nicht völlig lautlos geschehen können. Am Tag würde so etwas kaum jemand tun, und nachts waren alle Geräusche noch deutlicher zu hören. Nastja musste anrufen und sich erkundigen, ob man die Nachbarn in diesem Punkt befragt hatte.
Und schließlich der vierte und letzte Fall. Bei dem Opfer handelte es sich um einen Mann, der allem Anschein nach eine ganze Serie von Morden an alten, allein stehenden Männern begangen hatte. Seine Leiche wurde am frühen Morgen auf einem Kinderspielplatz entdeckt, der Tod war gegen zwei Uhr nachts eingetreten. Nichts daran wäre verwunderlich gewesen, wenn man neben der Leiche nicht einige Zigarettenkippen entdeckt hätte, die, wie aus dem Gutachten hervorging, eindeutig Speichelreste des Ermordeten trugen. Vor seiner Ermordung hatte der Mann demnach auf einer Bank des Kinderspielplatzes gesessen und seelenruhig geraucht. Es war kaum anzunehmen, dass der Henker den Mann an einem anderen Ort ermordet hatte, dann seine Zigarettenkippen aufgelesen und sie später wieder neben der Leiche verstreut hatte. Obwohl es natürlich alles gab . . .
Nastja machte sich eine Notiz in ihren Block, sie musste fragen, ob man die Bank auf Mikropartikel der Kleidung untersucht hatte, die der Ermordete trug. Wenn er sich wirklich eine Zeit lang auf dem Kinderspielplatz aufgehalten hatte, mussten solche Partikel auf jeden Fall vorhanden sein. Obwohl er vielleicht nicht gesessen, sondern gestanden hatte, oder auf und ab gegangen war. Aber dann musste es am Ort Überlagerungen zahlreicher Fußspuren geben.
Sie holte die Kopie des Tatortbesichtigungsprotokolls aus dem Ordner. Von zahlreichen überlagerten Fußspuren war keine Rede. Man hatte nur
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