Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
konnte er sich seine üblichen Fisimatenten nicht erlauben. Was für einen schwierigen und starrsinnigen Charakter er auch haben mochte, als ehemaliger Informant eines KGB-Generals musste er wissen, wie weit er gehen konnte, wo die Grenze war. Und die Anwesenheit eines fremden Menschen war eine Grenze. Pawel gab, ohne nachzudenken, die Bestellung auf und gab der Kellnerin die Speisekarte zurück.
»Jetzt dürfen Sie sich nicht beschweren, wenn ich das Falsche bestellt habe«, sagte er, als die Kellnerin sich entfernt hatte. »Sie werden essen müssen, was man Ihnen bringt.«
»Na und?« Nastja zuckte mit den Schultern. »Im Gegensatz zu Ihnen bin ich bescheiden und esse alles. Es ist schon erstaunlich, dass Sie nach zwei Jahren Straflager nicht mehr Interesse am Essen zeigen. Sehen Sie sich doch mal um, wo mein Romeo ist. Ist er schon gekommen?«
»Nein«, entgegnete Sauljak prompt.
Jetzt hast du dich verraten, dachte Nastja. Du hättest dich wenigstens anstandshalber unter den Gästen umsehen müssen. Aber jetzt weiß ich, dass deine Augen Korotkow schon von dem Moment an gesucht haben, als wir das Restaurant betraten.
Diesmal aß Sauljak alles auf, was serviert wurde, aber er wirkte, als würde er dabei eine Fron ableisten. Entweder hatte er wirklich keinen Hunger, oder er tat nur so. Aber dann fragte sich, wozu er dieses Spiel spielte.
Pünktlich um acht Uhr begann die Band zu spielen. Die Sängerin, die ein sagenhaftes schwarzes Kleid mit Metallnieten trug, führte das Mikrophon an den Mund und begann, ein berühmtes französisches Chanson in russischer Sprache zu singen. Sie hatte eine schwache, nicht sehr professionelle Stimme, aber die populäre Melodie zeigte ihre Wirkung. Auf der kleinen Tanzfläche vor dem Podium begannen sich sofort einige Paare zu wiegen. Nastja zog nachdenklich an ihrer Zigarette, beobachtete die tanzenden Paare und sang das Chanson leise mit, allerdings in Originalsprache.
»Haben Sie nicht gesagt, dass Sie keine einzige Fremdsprache beherrschen?«, fragte Sauljak.
Jetzt hat er sich zum zweiten Mal verraten, dachte Nastja. Der Fortschritt ist unübersehbar.
»Ich habe die Unwahrheit gesagt«, erwiderte sie mit einem sorglosen Lächeln und sah Pawel dabei ins Gesicht. Sie wollte seinen Blick auffangen, aber seine Augen wichen ihr ständig aus.
»Und warum haben Sie die Unwahrheit gesagt? Was wollten Sie damit bezwecken?«
»Gar nichts. Es macht mir einfach Spaß. Haben Sie etwas dagegen?«
»Und alles andere war auch gelogen? Das Straflager, die Rolle, die Sie angeblich abgelehnt haben?«
»Das werde ich Ihnen nicht auf die Nase binden. Jedenfalls vorläufig nicht. Ganz offensichtlich haben Sie es noch nicht gelernt, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.«
»Und Sie? Haben Sie es gelernt?«
»Schon längst«, lachte Nastja. »Wenn Sie wissen möchten, wie man das macht, werde ich es Ihnen irgendwann einmal erklären. Aber jetzt bitte ich Sie darum, mich zum Tanzen aufzufordern.«
»Ich tanze nicht«, erwiderte Sauljak.
»Das interessiert mich nicht. Das können Sie einer Frau erzählen, mit der Sie nicht tanzen möchten, weil sie Ihnen nicht gefällt. Aber da ich Sie bitte, müssen Sie jetzt aufstehen und mit mir auf die Tanzfläche gehen. Mehr noch, ich bitte Sie, beim Tanzen so zärtlich zu mir zu sein, dass es allen Anwesenden auffällt. Haben Sie verstanden?«
»Das ist ausgeschlossen. Dieser Bitte kann ich nicht nachkommen.«
»Sie bringen etwas durcheinander, Pawel Dmitrijewitsch«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Sie sind in Gefahr, nicht ich. Sie haben meinen Anweisungen zu folgen und nicht ich den Ihren. Wir werden jetzt tanzen, anschließend werden Sie mich umarmen und küssen, wofür ich Ihnen eine Ohrfeige geben werde. Danach werden wir an unseren Tisch zurückkehren, und Sie werden mich noch einmal küssen, und zwar so, dass es alle sehen. Und erst dann werden wir uns wieder setzen. Haben Sie sich das Szenario gemerkt?«
»Ich denke nicht daran«, sagte Sauljak mit dumpfer Stimme, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme auf der Brust und schloss die Augen.
»Sie müssen. Es ist unumgänglich. Und wenn Sie nicht verstehen wollen, warum es unumgänglich ist, werde ich gezwungen sein, es Ihnen zu erklären. Obwohl es unnötig ist, einem Menschen mit Ihrer Biographie und Ihren Erfahrungen so primitive Dinge zu erklären.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er, ohne die Augen zu öffnen. »Von welchen Erfahrungen sprechen Sie?«
»Von den
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