Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
ungeheuerlich. Es war kaum zu glauben.
* * *
Pawel Sauljak wusste, dass es nicht nur um Minuten, sondern um Sekunden ging. Der General hatte den Moment, in dem der weiße Shiguli vor der Apotheke erscheinen musste, genau berechnet, Und Pawel durfte sich nicht verspäten. Fünf vor zwölf stand er fertig angezogen im Flur. Aus der Küche hörte man Musik, er hatte das Radio laufen lassen, um das Zeitzeichen nicht zu verpassen. Nach dem sechsten Ton drehte er den Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür.
Und sofort passierte etwas. Er begriff gar nicht, was eigentlich. Fremde Leute im Treppenhaus, ein dumpfer Knall, ein Surren. Pawel kniff instinktiv die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Eine Treppe tiefer hielten drei kräftige Männer einen vierten fest. Daneben zwei weitere Männer, einer von ihnen hielt einen Revolver mit Schalldämpfer in der Hand. Auf der Treppe über ihm ebenfalls zwei Männer und eine Videokamera. Jetzt begriff Pawel den Ursprung der Geräusche, die er eben gehört hatte. Der dumpfe Knall hatte aus dem Revolver mit dem Schalldämpfer gestammt, das Surren erzeugte die Videokamera. Was ging hier vor?
»Pawel Dmitrijewitsch Sauljak?«, fragte einer der Männer. »Wir haben eben einen Mann festgenommen, der Sie erschießen wollte. Möchten Sie jetzt und hier eine Aussage machen oder zur Petrowka mitfahren?«
Zur Petrowka mitfahren? Eine Aussage machen? Und was war mit dem weißen Shiguli, der ihn zu Minajew bringen sollte? Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn er sich sehr beeilte, konnte er die Apotheke noch rechtzeitig erreichen. Aber natürlich würde man ihn jetzt nicht einfach so laufen lassen . . .
Und sofort stellte sich ihm die zweite Frage. Wer wollte ihn umbringen? Aber im Grunde war das nur eine rhetorische Frage. Noch vor kurzem hatte er selbst gesagt, dass er sich nicht wundern würde, wenn sich ihm halb Russland an die Fersen heften sollte, um ihn umzubringen. Interessant war nur, wie die Miliz von dem geplanten Mordanschlag auf ihn Wind bekommen hatte. Offenbar schliefen sie dort nicht, sondern waren ganz schön auf Draht. Es kam nur so ungelegen. Doch wenn er jetzt zur Petrowka mitfuhr, bestand wenigstens die Hoffnung, dort Anastasija zu treffen. Sie hatte immer Verständnis für ihn gehabt. Sie wusste genau, dass es jede Menge Leute gab, die ihm nach dem Leben trachteten. Sie hatte es in Samara mit eigenen Augen gesehen. Mit ihrer Hilfe würde es vielleicht gelingen, aus dieser Geschichte wieder herauszukommen. Schließlich gab es für den Moment keine Anklagepunkte gegen ihn. Wenn nur diejenigen, die diesen Killer geschickt hatten, ihn nicht hochgehen lassen würden, wenn nur diese alte, lang zurückliegende Geschichte nicht herauskam.
»Mir ist es egal«, sagte er und bemühte sich dabei nicht einmal, ruhig zu wirken. Schließlich hatte man ihn soeben umbringen wollen. Das verpflichtete ihn nicht zur Ruhe. »Ich richte mich ganz nach Ihnen. Wer ist denn dieser Mann?«
»Ein gewisser Vitali Sergejewitsch Knjasjew. Kennen Sie ihn?«
Der Beamte, der Knjasjew festhielt, schüttelte diesen kräftig und zwang ihn, den Kopf zu heben, damit Pawel sein Gesicht sehen konnte.
»Nein«, sagte Sauljak, »ich sehe ihn zum ersten Mal.«
Plötzlich fühlte Pawel sich wieder völlig schwach, seine Beine knickten ein, die seit Tagen in ihm angestaute Müdigkeit verband sich plötzlich mit dem Hauch des Todes, der ihn soeben gestreift hatte. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sank langsam auf den kalten steinernen Boden.
* * *
Nastja konnte sich nicht erinnern, schon einmal so nervös gewesen zu sein wie jetzt. Ihr stand das Gespräch mit Pawel bevor, und sie wusste einfach nicht, wie sie es aufbauen sollte. Womit beginnen, welche Karten ausspielen und welche vorläufig verdeckt halten? Ihre Gedanken sprangen hin und her, sie konnte sich einfach nicht konzentrieren, das machte sie wütend und immer nervöser.
Seit sie wusste, dass Knjasjew auf frischer Tat ertappt worden war, als er gerade auf Sauljak hatte schießen wollen, und dass die ganze Gesellschaft jetzt in schöner Einmütigkeit auf dem Weg zur Petrowka war, ging sie rastlos in ihrem Büro auf und ab, und schließlich begann sie verzweifelt, mit der Faust gegen die Wand zu trommeln, hinter der Mischa Dozenko saß. Gleich darauf erschien Mischa mit erschrockenem Gesichtsausdruck in der Tür.
»Was ist passiert, Anastasija Pawlowna?«
»Mischa, sehen Sie sich bitte gründlich um, und entfernen Sie
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