Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
. . .«
»Was für einen Blick?«
»Einen unguten.«
»Sie sind nervös. Übrigens habe ich gehört, dass alle Schauspielerinnen hysterisch sind, mehr oder weniger.«
»Die H-Ypsilon-Komponente«, murmelte sie, während sie ihre Handtasche unter dem Sitz hervorholte.
»Wie bitte?«
»Bei Frauen wie mir sprechen die Psychiater von einer zu stark ausgeprägten H-Ypsilon-Komponente. Die ersten zwei Buchstaben von Hysterie.«
»Eine psychiatrische Ausbildung haben Sie also auch noch?«
»Nein, aber eine Vorlesung über Psychodiagnostik habe ich mal gehört.«
»Ich glaube, Sie sind genauso wenig Schauspielerin, wie ich Weltmeister im Kickboxen bin.«
»Das glaube ich auch. Wir müssen gehen. Und lassen Sie uns nicht mehr streiten, abgemacht?«
Der Flughafen von Uralsk war klein, eng, schmutzig und unübersichtlich. Sie zwängten sich durch die Menschenmassen hindurch, die sich vor den Abfertigungsschaltern drängten, und betraten die Straße. Hier war es viel kälter als in Samara, es wehte ein durchdringender Wind und blies einem feine, stachelige Schneegraupeln in die Augen. Man hatte den Passagieren der umgeleiteten Maschine eine Übernachtung im Flughafenhotel angeboten, da der Flughafen von Jekaterinburg meteorologischen Vorhersagen zufolge nicht vor dem nächsten Tag angeflogen werden konnte. Dieses freundliche Angebot hatte kaum jemand angenommen, da die Möglichkeit bestand, Jekaterinburg in zehn Stunden mit dem Zug zu erreichen. Aber Nastja war klar, dass eine Zugfahrt nicht infrage kam. Auch wenn Korotkow in ihrer Nähe blieb, würden sie nicht viel tun können, falls ihren anhänglichen Freunden irgendeine Gemeinheit in den Sinn kommen sollte. In einem Zug würde es wenig Schutz vor ihnen geben. Sie mussten hier ausharren, in Uralsk, und auf das nächste Flugzeug nach Jekaterinburg warten. Nur dort konnte es Nastja gelingen, ihre Verfolger abzuschütteln, dort erwartete man sie, dort würde sie neue Papiere bekommen.
Im Hotel bot man ihnen je ein Bett in verschiedenen Zimmern an, Nastja in einem Sechsbettzimmer für Frauen, Sauljak in einem Sechsbettzimmer für Männer. Dieser Variante konnte Nastja auf keinen Fall zustimmen. Sie holte eine weitere Hundertdollarnote aus ihrer Handtasche, worauf der Empfangschef ihr mit strahlendem Lächeln den Schlüssel zu einem ganz gewöhnlichen Doppelzimmer mit Bad und Telefon reichte. Wahrscheinlich war es das luxuriöseste Zimmer im ganzen Hotel.
Im Zimmer ließ sie ihre Handtasche zu Boden fallen, warf ihre Jacke ab und plumpste aufs Bett. Sauljak hängte seine Jacke ordentlich in den Schrank und setzte sich in den Sessel. Nastja lag mit dem Rücken zu ihm auf dem Bett, aber sie hätte geschworen, dass er wieder mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen dasaß.
»Haben Sie vor, Ihren Hungerstreik fortzusetzen?«, fragte sie sarkastisch.
»Sie werden doch nicht etwa schon wieder Hunger haben?«, konterte er.
»Ich habe den ganz normalen, gesunden Appetit eines Menschen, der nicht unter Gewissensbissen leidet«, erwiderte sie fröhlich. »Aber wenn man Sie anschaut, hat man den Eindruck, dass Ihnen jeder Bissen im Halse stecken bleibt. Ist es etwa die Angst, die Ihnen die Kehle zuschnürt?«
»Ich beneide Sie um Ihren Optimismus. Man sagt ja nicht umsonst, dass der Mensch umso mehr leidet, je mehr er weiß.«
»Dann weihen Sie mich doch in Ihr leidvolles Wissen ein, vielleicht vergeht mir dann auch der Appetit. Und wir sparen das Geld fürs Essen.«
Er antwortete nicht, aber Nastja konstatierte mit Genugtuung, dass er allmählich etwas gesprächiger wurde. Sie musste nur Geduld haben und sich etwas einfallen lassen. Eines hatte sie bereits herausgefunden: Pawel Sauljak war nicht sehr flexibel, er konnte sich nur schwer auf eine neue Situation einstellen. Als sie ihm gestern im Restaurant zärtlich die Hand gestreichelt hatte, war er sofort abgekommen von seinem harten Kurs. Nicht weil er weich geworden war, sondern weil sie ihn irritiert hatte. Und genau deshalb hatte er sich auch dieses Stückchen auf der Tanzfläche geleistet. Dieser Mensch geriet sofort in Verwirrung, wenn er etwas nicht verstand. Damit konnte man arbeiten.
Ein Zeit lang lag sie schweigend auf dem Bett und betrachtete kritisch den Nagellack an den Fingern ihrer erhobenen Hand. Dann drehte sie sich auf den Bauch, legte die Hände unters Kinn und begann, Pawel aufmerksam zu betrachten. Er reagierte nicht darauf, sondern blieb völlig bewegungslos sitzen.
»Was glauben Sie,
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