Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
lauern sie uns unten auf der Straße auf?«, fragte sie schließlich.
»Am ehesten wartet einer unten auf der Straße und ein anderer hier oben, auf unserer Etage. Sie verstecken sich ja schließlich auch voreinander.«
»Wir sind hier nicht in Moskau. Lange halten sie das hier nicht durch. Vielleicht sollten wir sie irgendwohin locken, wo sie gezwungen sein werden, sich gegenseitig auf die Füße zu treten.«
»Wollen Sie sich in Experimente stürzen?«
»Warum nicht. Oder ist das Experimentieren Ihr alleiniges Privileg? Ich mag es, wenn etwas los ist, die Langeweile deprimiert mich und wirkt sich negativ auf meine Leistungsfähigkeit aus. Sie taugen nicht zum Gesprächspartner, und wenn ich mich nicht mit Gleichgesinnten amüsieren kann, dann sollte ich es vielleicht mit meinen Gegnern versuchen. Was halten Sie davon?«
»Ihr Auftraggeber muss ein kompletter Idiot sein«, zischte Sauljak. »Wo hat er Sie bloß ausgegraben?«
»Werden Sie nicht unverschämt, Pawel Dmitrijewitsch. Wenn ich Sie gestern nicht am Lagertor abgeholt hätte, würden Sie bereits irgendwo im Straßengraben liegen, und der kalte Februarschnee würde leise auf Ihren leblosen Körper fallen. Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht fehlt mir die Erfahrung, um Sie heil und gesund nach Moskau zu bringen, aber einen zusätzlichen Tag Leben habe ich Ihnen bisher immerhin geschenkt. Dafür sollten Sie mir dankbar sein.«
»Da haben Sie Recht. Mit dem Leben ist es wie mit dem Geld. Man hat nie genug davon.«
»Oh, jetzt beginnen Sie auch noch zu philosophieren. Bravo! Hören Sie zu, Pawel Dmitrijewitsch. Entweder beginnen wir mit einer ganz normalen Zusammenarbeit, oder ich gehe jetzt allein in die Stadt zum Essen. Sie bleiben hier zurück in stolzer Einsamkeit, und wir werden sehen, wie lange Ihnen die Puste reicht, wenn die, die Ihnen so wohlgesinnt sind, in dieses Zimmer einbrechen. Es sind mindestens vier, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich inzwischen kennen und gemeinsame Sache machen. Und Sie besitzen nicht einmal eine Waffe.«
»Besitzen Sie denn eine?«
»Ich besitze keine Waffe, aber ich besitze das Geheimnis meiner Person, das Sie schützt. Solange sie dieses Geheimnis nicht kennen, werden sie Ihnen in meiner Anwesenheit nichts tun, da sie in diesem Fall auch mir etwas tun müssten. Und bis jetzt wissen sie nicht, ob sie das dürfen. Aber sobald wir uns getrennt haben, ändert sich die Situation ganz grundsätzlich. Ohne mich sind Sie völlig schutzlos. Also, ich frage Sie zum letzten Mal: Kommen Sie mit zum Essen?«
»Ich habe einen anderen Vorschlag.«
»Schlagen Sie vor.«
»Wir könnten zusammen etwas einkaufen gehen und dann hier auf dem Zimmer essen.«
»Lässt sich machen.«
Natürlich lässt es sich machen, dachte Nastja. Endlich habe ich dich aus der Reserve gelockt. Selbst wenn du mir vorgeschlagen hättest, Zeitungen kaufen zu gehen und damit die Wände in diesem Zimmer zu tapezieren, wäre ich einverstanden gewesen. Hauptsache, ich bringe dich zum Reden, dazu, dass du mitarbeitest und deine Meinung sagst. Du hast mir einen Kompromiss vorgeschlagen – ich komme dir entgegen. Wir beide müssen Freunde werden, Pawel Dmitrijewitsch, sonst scheitern wir. Ich komme dir zwar ziemlich dumm, aber auch frech und aufsässig vor. Gut. Du wirst dich zu mir herablassen müssen. Erst wenn du das Gefühl bekommst, mir überlegen zu sein, wirst du aufhören, dich vor mir zu verstecken. Solange du einen starken Gegner in mir siehst, kommen wir zu nichts. An Hochmut und Eigenliebe reicht es dir für zehn, aber dir fehlt die Leidenschaft. Hättest du die, dann würde ein starker Gegner dich reizen, aber Stattdessen geht er dir nur auf die Nerven. Oder macht er dir etwa Angst? Fehlt dir vielleicht das Selbstvertrauen? Aber wie dem auch sei, nach und nach beginne ich, dich ein wenig zu verstehen, Pawel Sauljak. Das ist immerhin ein Anfang.
* * *
Mehr als alles andere auf der Welt liebte Grigorij Valentinowitsch Tschinzow die Intrige. Ohne Intrige konnte er nicht atmen, er starb vor Langeweile, wenn er nicht wenigstens eine ganz kleine, noch so dumme Intrige spinnen konnte. Der heutige Tag war voll der rosigsten Aussichten für ihn, da in Russland der Präsidentschaftswahlkampf begann. Grigorij Valentinowitsch Tschinzow blühte geradezu auf. Endlich würde er zeigen, was er konnte, endlich war er ganz in seinem Element.
Er war kein Kämpfer für die Sache, es ging ihm nur darum, sich zu bereichern, und so stürzte er sich
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