Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Gruppe, die am ruhigsten war und die größte Disziplin besaß. Vielleicht deshalb, weil die Natur sie mit einer geringeren Gabe ausgestattet hatte als die anderen. Aber für die Erfüllung bestimmter Aufgaben waren ihre Fähigkeiten mehr als ausreichend, und Pawel selbst arbeitete am liebsten mit ihr zusammen. Rita war weder eigensinnig noch launisch, sie stellte keine überflüssigen Fragen und folgte immer genau seinen Anweisungen. Wichtig war nur, dass sie präzise, detaillierte Instruktionen bekam, denn sie verfügte über kein großes Improvisationstalent.
Rita war die Erste aus der Gruppe, die Pawel nach seiner Erholungspause auf Minajews Datscha traf. Nachdem er ihre Wohnung betreten hatte, begriff er sofort, dass sie in den letzten zwei Jahren praktisch ohne Arbeit herumgesessen hatte. Sie versah zwar irgendeinen staatlichen Dienst, aber das Gehalt reichte offensichtlich nur für das Nötigste. Pawels scharfer Blick entdeckte keinen einzigen neuen Gegenstand in der Wohnung, alles war noch genauso wie einst. Der alte Fernseher, dasselbe Mobiliar, derselbe Teppich auf dem Fußboden. Damals, vor zwei Jahren, nach Bulatnikows Tod, als Pawel beschlossen hatte, vorübergehend in einem Straflager unterzutauchen, hatte er den Mitgliedern seiner Gruppe streng verboten, sich auf irgendwelche unsauberen Geschäfte einzulassen.
»Ihr habt in der vergangenen Zeit genug verdient«, hatte er gesagt, »es muss euch reichen, bis ich wiederkomme. Haltet durch, sonst kommt ihr in Teufels Küche.« Insgeheim war er aber sicher gewesen, dass kein Einziger auf ihn hören würde. Denn er wusste, dass in Zeiten wie diesen ein immenser Bedarf an jenen besonderen Diensten bestand, die seine Leute erweisen konnten.
Nur an Rita hatte er im Grunde nicht gezweifelt. Und er hatte sich nicht getäuscht, sie hatte ihn nicht im Stich gelassen, war nicht abgesprungen.
Sie hatte ihm die Tür geöffnet und schweigend sein gealtertes Gesicht gemustert. Pawel hatte ihr, wie gewöhnlich, nicht in die Augen gesehen, um sie nicht zu irritieren. Endlich fühlte er, wie die unsichtbare Mauer, die Rita zwischen ihnen aufgerichtet hatte, einzustürzen begann.
»Du bist zurück«, sagte sie leise und begann zu weinen. »Mein Gott, endlich bist du zurück.«
»Ich habe es doch versprochen«, erwiderte Pawel mit einem schmalen Lächeln. »Wein nicht, Kindchen, hör auf, es ist alles gut. Ich bin zurück, und wir werden wieder Zusammenarbeiten. Du bist wahrscheinlich arm wie eine Kirchenmaus.«
»Darum geht es nicht, Pawel, es geht nicht um Geld. Ich hatte Angst, große Angst. Da war kein Ziel mehr, kein Sinn. Früher hatte ich gewusst, wofür ich lebe. Da war unsere gemeinsame Sache, die Arbeit, die ich so gut wie möglich machen wollte. Dann bist du verschwunden, und alles war aus. Ich hätte mir ja etwas anderes suchen können, aber du hast es verboten.«
»Wie gut, dass du auf mich gehört hast«, sagte Sauljak sanft. »Jetzt wird sich das bezahlt machen. Glaub mir, alles kommt wieder in Ordnung. Du kannst schon heute wieder anfangen zu arbeiten. Bist du bereit?«
»Ich weiß nicht.« Rita schüttelte unsicher den Kopf. »Ich habe schon so lange nicht mehr gearbeitet, vielleicht kann ich es gar nicht mehr.«
»Du kannst es«, versicherte ihr Pawel. »Du musst nur an dich glauben und dich darauf einstellen. Dann wird dir alles gelingen. Wir müssen jemanden anrufen und ein Treffen vereinbaren.«
Er reichte Rita einen Zettel, auf dem Schabanows Telefonnummer stand.
»Er soll in einer Stunde zur Profsojuznaja, Ecke Butlerowa-Straße kommen. Dann fahren wir zusammen zum Treffpunkt, Du wirst mit ihm sprechen, und ich werde ihn unbemerkt beobachten.«
Rita streckte ihre Hand gehorsam nach dem Telefonhörer aus.
»Und wenn er es ablehnt, sich mit mir zu treffen?«, fragte sie, während sie die Ziffern auf dem Tastentelefon drückte. »Soll ich dann versuchen, ihn zu überreden?«
»Auf keinen Fall. Du verabredest dich mit ihm und legst den Hörer auf. Wenn er an mir interessiert ist, wird er kommen. Wenn nicht, dann habe ich mich getäuscht.«
Zwanzig Minuten später waren sie unterwegs in Richtung Südwesten. Pawel schwieg, um Rita nicht abzulenken, sie sollte sich auf das bevorstehende Treffen konzentrieren. Erst kurz vorm Ziel brach er das Schweigen.
»Hast du dir alles gemerkt? Er soll dir sagen, wer konkret mich sucht und warum. Und du erklärst ihm, dass ich bereit bin, für diese Leute zu arbeiten, wenn sie mir Sicherheit garantieren.
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