Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
sie diese Frau vergessen sollen. Sie tut nichts zur Sache. Sie sollen sie vergessen. Ist das klar?«
»Gut.«
»Wer sucht Pawel noch?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist nicht wahr. Denken Sie nach, und sagen Sie mir, wer noch an ihm interessiert ist.«
»Solomatin.«
»Wer ist das?«
»Ein Mann aus dem Umfeld des Präsidenten.«
»Vorname?«
»Wjatscheslaw Jegorowitsch.«
»Was will er von Pawel?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Können Sie mich sehen?«
»Ja. . .«
»Wie sehe ich aus?«
»Sie sind klein und dunkelblond, Sie tragen eine helle Pelzjacke.«
»Wie alt bin ich?«
»Etwa dreißig.«
»Falsch. Ich bin groß und brünett, etwa vierzig Jahre alt. Ich trage einen langen Nutria-Mantel. An der Unterlippe habe ich eine kleine Schramme. Und ich stottere leicht. Das ist alles. Haben Sie es sich gemerkt?«
»Ja, ist gut.«
»Wer ist der zweite Mann in Ihrem Auto?«
»Mein Mitarbeiter.«
»Wie heißt er?«
»Kolja.«
»Wird man ihm Fragen nach mir stellen?«
»Ich weiß es nicht, aber vermutlich schon.«
»Sagen Sie ihm, dass die Frau in der hellen Pelzjacke eine zufällige Passantin war, die ich gebeten habe, am Kiosk auf Sie zu warten. Das Gespräch haben Sie nicht mit ihr geführt, sondern mit mir. Diese Frau ist gleich nach meinem Eintreffen gegangen, sie kennt mich nicht. Haben Sie alles verstanden?«
»Ja, ist gut. . .«
»Ich gehe jetzt, und Sie werden hier noch einige Minuten warten. Zählen Sie langsam bis dreihundert, dann können Sie zu Ihrem Wagen gehen. Teilen Sie Tschinzow unsere Bedingungen mit. Pawel wird ihn morgen um zehn Uhr anrufen. Und denken Sie daran: Er ist zur Zusammenarbeit bereit, aber wenn man versuchen sollte, ihn hereinzulegen, würde Sie das teuer zu stehen kommen. Pawel ist nicht geschwätzig, aber sehr rachsüchtig.«
»Ich werde alles ausrichten.«
»Ich gehe. Beginnen Sie zu zählen.«
Rita folgte streng den Anweisungen, die Pawel ihr gegeben hatte. Sie ging nicht an dem parkenden Wagen vorbei, in dem Kolja wartete, sondern verschwand hinter den Kiosken. Sauljak konstatierte befriedigt, dass Rita nichts von ihrer Qualifikation eingebüßt hatte. Sie hatte alles richtig gemacht.
Er blickte ihr hinterher, bis die Ampel auf Grün umschaltete und sie die Profsojuznaja-Straße überquerte. Dann ging er so lautlos wie möglich zu seinem Saab, wendete und fuhr zur General-Antonow-Straße, wo Rita auf ihn warten musste.
* * *
»Bist du müde?«, fragte er besorgt, als Rita endlich neben ihm im Auto saß.
»Ein wenig«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Ich bin es ja nicht mehr gewohnt. . .«
»Du hast dir ganz unnötig Sorgen gemacht, Kindchen. Alles ist bestens gelaufen. Jetzt bringe ich dich nach Hause, und du kannst dich ausruhen.«
»Und morgen?«
Die Angst in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Was soll morgen sein?«
»Werden wir morgen wieder arbeiten?«
»Willst du nicht? Hast du Angst?«
»Nein, wo denkst du hin . . . Ich habe Angst, dass du wieder verschwindest. Und ohne dich . . .«
»Was, Kindchen?«
»Ohne dich weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich völlig nutzlos.«
»Arbeitest du immer noch bei der Sparkasse?«
»Ja, immer noch.«
»Langweilst du dich?«
»Natürlich. Aber ich habe mich daran gewöhnt.«
Sauljak begriff plötzlich, wie einsam diese junge Frau war. Als er sie vor zehn Jahren in seine Gruppe aufnahm, hatte er befürchtet, dass sie ihm nicht lange erhalten bleiben würde. Frauen in diesem Alter wollten in der Regel heiraten und Kinder bekommen. Aber mit Rita passierte nichts dergleichen. Rita war sehr gehorsam und fleißig und stellte keine Forderungen. Damals hatte er nichts von ihr verstanden. Mit überheblicher Selbstverständlichkeit war er davon ausgegangen, dass Rita aus purer Dankbarkeit für ihn arbeitete, weil er sie damals rechtzeitig aus dem Krankenhaus herausgeholt hatte, in das sie die bösartigen Mitbewohner ihrer damaligen Gemeinschaftswohnung gebracht hatten. Er selbst kam sehr gut ohne feste Beziehungen zu Frauen aus, er brauchte keine emotionalen Bindungen, keine seelische Nähe, er war unzugänglich und kalt. Und er hatte geglaubt, dass Rita genauso war, dass sie deshalb keinen festen Freund hatte und sich nicht nach der Ehe sehnte. Jetzt erinnerte sich Pawel daran, wie sie ihn angesehen hatte, als er vorhin vor ihrer Tür erschienen war. Er erinnerte sich daran, wie sie geweint hatte. Und er begriff, dass er in all diesen Jahren völlig blind
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