Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Von hier ab gehst du zu Fuß. Nach dem Gespräch mit ihm wechselst du die Straßenseite und gehst bis zur General-Antonow-Straße. Er wird nicht neben dir herfahren können, weil der Verkehr auf dieser Straßenseite aus der Gegenrichtung kommt. Hast du alles verstanden?«
»Ja, Pawel«, erwiderte sie.
Ihre Stimme war völlig emotionslos, und Pawel begriff, dass sie bereits ganz bei der Sache war. Er ließ sie aussteigen, fuhr ein kurzes Stück voraus, fand einen günstigen Parkplatz, schloss den Wagen ab und machte sich auf den Weg zum Treffpunkt.
Sauljak hatte diese Stelle nicht zufällig ausgesucht. Sie war von verschiedenen Seiten zu erreichen und gut einsehbar, während man selbst unbemerkt blieb. Rita näherte sich einem Kiosk und blieb davor stehen, so, als würde sie die Auslagen hinter der Scheibe betrachten. Die Stunde war bereits verstrichen, Schabanow musste jeden Moment erscheinen. Pawel lehnte sich gegen einen Baumstamm und verschränkte gewohnheitsmäßig die Arme über der Brust. Aber er durfte sich jetzt nicht entspannen, sondern musste bereit sein, Rita zu Hilfe zu eilen, falls es nötig werden sollte. Obwohl es nicht zu erwarten war. Solche und ähnliche Aufgaben hatte sie schon zahllose Male problemlos bewältigt.
Pawel erblickte ein Auto, das gegenüber dem Kiosk hielt, vor dem Rita stand. Er strengte seine Augen an und versuchte, den Mann zu erkennen, der am Steuer saß. Es war genau der, den er erwartet hatte. Der ältere der beiden Männer, die ihn auf dem Weg von Samara nach Moskau verfolgt hatten. Wie hieß er gleich wieder? Kolja, hatte Nastja gesagt. Und der jüngere hieß Serjosha. Der allerdings war im Innern des Autos nicht zu sehen.
Die Wagentür öffnete sich, Pawel erblickte einen stattlichen Mann, dessen Alter er in der Dunkelheit auf etwa vierzig schätzte. Rita machte eine kaum merkliche Handbewegung, und der Mann folgte ihr. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, konnte man sie von Pawels Beobachtungsposten aus nicht mehr sehen, die dicht nebeneinander stehenden Kioske verdeckten die Sicht. Sauljak steckte sich einen kleinen Kopfhörer ins Ohr.
»Haben Sie mich angerufen?«, hörte er den Mann fragen.
»Nein. Aber man hat mich zu dem Treffen mit Ihnen geschickt. Haben Sie Interesse an dem Mann, der aus Samara zurückgekommen ist?«
Es entstand eine Pause, und Pawel begriff, dass Rita sich diesmal anders verhielt als sonst. Früher hatte sie solche Gespräche ganz anders begonnen, sie hatte erst einmal eine Weile ganz harmlos geplaudert, um sich so auf ihren Gesprächspartner einzustellen, ihn in die notwendige Richtung zu lenken und ihm dann unter Einsatz ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten die Geständnisse zu entlocken, auf die es ankam. Heute war sie verständlicherweise nervös. Nach zwei Jahren Arbeitspause hatte sie keine Routine mehr und wollte das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wahrscheinlich hatte sie, im Gegensatz zu früher, sogar Angst.
Die Pause zog sich in die Länge, aber endlich ertönte im Kopfhörer wieder die Stimme des Mannes, die plötzlich matt und gleichgültig klang.
»Ja, wir sind sehr an Sauljak interessiert.«
»Was wollen Sie von ihm?«
»Zuerst hatten wir vor, ihn loszuwerden.«
»Und dann?«
»Dann haben wir beschlossen, ihn für unsere Zwecke zu benutzen. Wir wollen uns mit ihm einigen.«
»Für welche Zwecke wollen Sie ihn benutzen?«
»Er soll auf einige Leute Einfluss ausüben. Er soll sie in die Enge treiben und dazu zwingen, andere Entscheidungen zu treffen. Er weiß viel über diese Personen.«
»Heißt das, Sie wollen, dass er andere für Ihre Zwecke erpresst?«
»Ja.«
»Geht es nur um Erpressung oder noch um etwas anderes?«
»Nein, nur um Erpressung.«
»Richten Sie Ihren Freunden aus, dass er einverstanden ist, allerdings nur unter der Bedingung, dass Sie ihn nicht verfolgen werden und er sich frei bewegen kann. Geben Sie mir die Telefonnummer Ihres Chefs, er wird anrufen.«
»Ja, natürlich . . . drei sieben fünf null drei null sechs.«
»Und der Name?«
»Tschinzow.«
»Sein Vorname?«
»Grigorij Valentinowitsch.«
»Was noch?«
Erneut entstand eine Pause. Dann vernahm Pawel wieder Ritas Stimme.
»Ich glaube, Sie haben mir noch nicht alles gesagt.«
»Da ist noch diese Frau . . .«
»Was für eine Frau?«
»Eine Frau, die auf dem Weg von Samara nach Moskau mit Sauljak zusammen war. Eine Verwandte. Man interessiert sich auch für sie.«
»Richten Sie Ihren Freunden aus, dass
Weitere Kostenlose Bücher