Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
gewesen war. Rita liebte ihn.
Sie erreichten ihr Haus und gingen hinauf in ihre Wohnung. Rita schlug ihm vor, zum Abendessen zu bleiben, und ihr Gesicht leuchtete freudig auf, als er zustimmte.
»Allerdings habe ich nichts Besonderes da«, entschuldigte sie sich, »du bist so unerwartet gekommen.«
»Macht nichts, Kindchen, du weißt doch, dass ich keine Ansprüche ans Essen stelle.«
Nach dem Abendessen tranken sie Tee und aßen süße Brötchen dazu. Es war bereits nach Mitternacht, und Pawel ging immer noch nicht. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, ob er Rita verlassen oder ob er bleiben sollte. Er wäre sehr gern in seine Wohnung gefahren, Rita hatte ihn als Frau noch nie gereizt, weder früher noch jetzt, aber er fürchtete, dass sich in den letzten zwei Jahren viel verändert hatte und Rita inzwischen vielleicht der einzige Mensch war, auf den er sich noch verlassen konnte. Also musste er versuchen, sie so eng wie möglich an sich zu binden.
»Ich wollte dir schon lange etwas sagen«, begann er unsicher.
»Was, Pawel?«
»Genauer, ich wollte dich fragen . . . Sag mal, Rita, siehst du eigentlich nur deinen Chef in mir, oder bedeute ich dir mehr?«
Ein verlegenes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
»Du bedeutest mir sehr viel, Pawel. Ich war mir sicher, dass du das längst weißt.«
»Nein, stell dir vor, ich habe es nicht gewusst. Ich musste erst zwei Jahre ohne dich sein, um es zu begreifen. Weißt du, ich habe dich in dieser Zeit sehr vermisst. Sehr. Du mich auch?«
»Ich wäre fast gestorben ohne dich«, sagte sie schlicht. »Wo warst du in diesen zwei Jahren?«
»Sehr weit weg. Aber es hat jetzt keine Bedeutung mehr, wo ich war. Die Hauptsache ist, dass ich zurück bin. Und jetzt werde ich dich nicht mehr verlassen.«
»Nicht einmal heute Nacht?«
»Nein, nicht einmal heute Nacht.
SECHSTES KAPITEL
Tschinzow wartete ungeduldig darauf, dass es zehn Uhr morgens wurde. Was für eine überraschende Wendung der Dinge! Das Opfer war dem Jäger von selbst vor die Flinte gelaufen. Die Sache war klar. Wer wollte schon am Hungertuch nagen. Sauljak hatte beschlossen, sich ein bisschen Geld zu verdienen. Eine lobenswerte Absicht. Ein lebender Freund war schließlich besser als ein toter Feind, den konnte man wenigstens für seine Zwecke benutzen. Und wenn er seine Dienste anbot, dann hatte er offenbar nichts Böses vor. Man musste aus ihm herausholen, was herauszuholen war, und danach würde man weitersehen. Vielleicht würde es ja gelingen, ihn für die eigene Mannschaft anzuwerben.
Schabanow hatte Tschinzow spätabends angerufen und mitgeteilt, dass er gleich vorbeikommen würde. Tschinzow war sofort klar gewesen, dass etwas passiert sein musste, aber er hatte nicht geahnt, mit welcher Neuigkeit Schabanow aufwarten würde. Am meisten interessierte ihn die Frau, mit der er gesprochen hatte. Ob es die Verwandte war, die Sauljak in Samara abgeholt hatte?
»War es so eine magere Blondine?«, fragte er Schabanow.
»Nein, sie ist brünett. Sie stottert ein bisschen und hat eine kleine Schramme an der Unterlippe.«
»Dann war es eine andere«, sagte Tschinzow enttäuscht. »Man müsste sie finden, diese Verwandte. Vielleicht könnte sie uns ebenfalls nützlich sein. Du bist so merkwürdig, Jewgenij, was ist los mit dir? Hast du vor Schreck einen getrunken?«
»Nein, mir ist einfach nicht gut. Ich fühle mich irgendwie schwach.«
»Wirst du etwa krank?«
»Vielleicht. Mein Kopf ist merkwürdig schwer, mir ist, als hätte ich drei Nächte nicht geschlafen.«
»Wie dem auch sei. Sauljak wird mich morgen anrufen. Ein schlauer Kerl, er macht es richtig. Kolja hat gesagt, dass er ihn und Serjosha bemerkt hat. Und jetzt hat er die richtige Entscheidung getroffen. Anstatt sich von uns jagen zu lassen, arbeitet er lieber mit uns zusammen. So ist es besser für ihn und auch für uns.«
Schabanow verabschiedete sich wieder, und Grigorij Valentinowitsch verbrachte eine schlaflose Nacht. Er dachte über das bevorstehende Gespräch mit Sauljak nach. Es war klar, dass er Geld für seine Dienste verlangen würde. Sollte man ihn vielleicht etwas einschüchtern, damit er mit dem Honorar herunterging? Oder sollte man lieber so tun, als wüsste man gar nichts über ihn, um ihn nicht misstrauisch zu machen?
Tschinzow sprang beim ersten Morgengrauen aus dem Bett und eilte in die Küche, um das Frühstück für seine Frau und seine Tochter zu machen. Und das nicht etwa deshalb, weil er ein guter Familienvater und
Weitere Kostenlose Bücher