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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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selbst nicht, warum er Ljudmila Semjonowa, die sich so vertrauensvoll auf seinen Arm stützte, so ungern loslassen wollte. Aber es länger hinauszuzögern wäre ungehörig gewesen.
    »Ich danke Ihnen, Ljuda«, sagte er leise. »Ich will Sie nicht länger quälen. Gehen Sie, nehmen Sie Abschied von Irina. Ich muss los.«
    Er lief zurück durch die langsam vorrückende Menge, wobei er neben einem mittelgroßen dunkelhäutigen Mann mit Hornbrille und zwei weiteren Männern mit einem riesigen Gladiolenstrauß, der ihre Gesichter fast vollständig verdeckte, kurz zögerte. Nun war er sicher, dass die Videokamera die drei in Großaufnahme festhalten würde.
    Korotkow lief über die Krestowski-Brücke, wobei die drückende Hitze ihm fast den Atem nahm, und versuchte, sich auf den Fall Pleschkow einzustimmen, dem er einen Teil des Tages widmen musste. Doch seine Gedanken glitten immer wieder ab, präsentierten ihm hartnäckig immer wieder eine leise Stimme: »Das ist kein Scherz. Heiraten Sie mich.«
    »Sie hat immer für die ganze Abteilung den Plan gerettet. Wenn sie mit ihren Themen fertig war, hat sie anderen geholfen. Hat geschuftet wie ein Pferd. Übers Wochenende und an Feiertagen hat sie Arbeit mit nach Hause genommen. Der Chef hat sie förmlich angebetet. Und sie hat sich geniert, mal um einen freien Tag zu bitten.«
    »Wir hatten alle mächtig Manschetten vor ihr, besonders, wenn sie eine Arbeit begutachtet hat. Irina Sergejewna war unglaublich pedantisch, hat jedes Wort auseinander genommen. Als sie mir meine Dissertation zurückgab, waren alle Ränder mit Bleistift voll geschrieben, können Sie sich das vorstellen? Auf jeder Seite. Und hinten lagen noch mehrere Blätter mit Bemerkungen. Und nicht etwa, weil ich so besonders blöd bin. Sie hat jede Dissertation so gelesen. Dafür wusste jeder, dass, wenn er ihre Korrekturen und Bemerkungen beherzigte, die Arbeit hundertprozentig durchkommen würde. Darum wollten viele mit ihrer Dissertation unbedingt zu ihr, und sie hat niemanden abgewiesen, obwohl sie selbst immer viel zu tun hatte. Ein paar Klugscheißer, die haben sich ihre Dissertation mit den Kommentaren abgeholt und überall verbreitet: ›Die hat die Filatowa persönlich gelesen, und haben dann kein Wort daran korrigierte So einen Ruf hatte Irina Sergejewna. Nach ihren Korrekturen konnte man die Arbeit unbesehen zur Promotion einreichen, und das haben manche ausgenutzt. Als sie einmal jemanden dabei erwischte, da war vielleicht was los! Sie ist extra zur Disputation gekommen, ist als inoffizieller Opponent aufgetreten und hat den Kandidaten buchstäblich fertig gemacht. Alles konnte sie verzeihen -Faulheit, Dummheit, aber Betrüger konnte sie nicht ausstehen. Da wurde sie fuchsteufelswild . . .«
    »Feinde? Irina? Woher denn?«
    »Viele haben Irina insgeheim nicht gemocht. Aber das waren vor allem Leute, die sie nicht verstanden. Urteilen Sie selbst: Sie war jung, attraktiv, beliebt bei den Männern – und ging ganz in ihrer Arbeit auf. Da stimmte doch etwas nicht. Warum rieb sie sich so auf? Um sich bei den Vorgesetzten beliebt zu machen? Mit vierunddreißig war sie leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin, und das steht im Grunde nur Habilitierten zu. Warum diese Karriere? Aber wer sie näher kannte, der wusste, dass ihre Arbeit sie wirklich interessierte. Sie hat oft gesagt, von Kindheit an sei ihre Lieblingsfrage gewesen: Warum? Warum ist etwas so und nicht anders? Warum geschieht das und passiert jenes? Auch als Kriminologin fragte sie immer nach dem Warum, zerbrach sich den Kopf, um herauszufinden, warum die Kriminalität sich so entwickelt und nicht anders.«
    »Wir sind mit unseren Problemen immer zu ihr gegangen. Sie konnte zuhören. Und trösten. Wenn man mit ihr gesprochen hatte, war einem leichter. Und geraten hat sie immer das Gleiche: ›Handle so, wie du selbst willst, tu dir keine Gewalt an, verbieg dich nicht.‹«
    »Die Filatowa war böse, sie konnte nicht verzeihen. Sie hat sich nie gerächt, das nicht, um Gottes willen, dazu war sie viel zu weich. Sie hat für sich ihre Schlüsse gezogen und ist dann bei ihrer Meinung geblieben, egal, was passierte. Sie konnte jemandem ein für alle Mal ein Etikett verpassen und hielt es nicht mal für nötig, es demjenigen zu verbergen. Ein Kollege hatte sich einmal eine größere Summe für eine Woche von ihr geliehen und sie erst nach zwei Monaten zurückgezahlt. Die Filatowa hat ihn kein einziges Mal gemahnt, nie danach gefragt, obwohl ihre Büros

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