Anastasija 06 - Widrige Umstände
Hypothesen wieder aufnehmen.«
»Ich fürchte, Sie werden mich aufdringlich finden, aber . . . Erlauben Sie mir, hin und wieder vorbeizukommen, um zu erfahren, wie die Dinge stehen? Sie wissen ja«, er sah Nastja in die Augen, »ich habe Irina geliebt. Sehr geliebt. Ich war bereit, mich scheiden zu lassen, aber sie wollte nichts davon hören, sie sagte, wir hätten sowieso keine Wohnung.«
»Alexander Jewgenjewitsch«, Nastja lächelte freundlich, »Sie kannten Irina Sergejewna seit Jahren. Erzählen Sie mir von ihr. Sie verstehen sicher, wie wichtig für uns jede Kleinigkeit ist, jedes Detail.«
»Was soll ich Ihnen erzählen?« Pawlow seufzte. »Irina war . . . Wie soll man das erzählen? Sie war wunderbar, bezaubernd, zärtlich . . .« Er war offenkundig wirklich erregt, seine Hände zitterten, sein Kehlkopf hüpfte über der Krawatte. »Ich kann nicht, entschuldigen Sie.«
Er erhob sich. Sah zur Uhr. Lächelte Nastja gequält an.
»Lassen Sie uns ein kleines Abkommen schließen, Anastasija Pawlowna. Sie erlauben mir, herzukommen und mich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen, und dafür erzähle ich Ihnen von Irina. Abgemacht?«
»Gut. Kommen Sie, ich bin gespannt, was Sie mir erzählen können.«
Der wütende Gordejew, der in der Tür beinahe mit Pawlow zusammenstieß, kam in Nastjas Zimmer gestürmt.
»Weißt du, wo Schumilin jetzt ist? In einer Nervenklinik. Kowaljow ist natürlich gleich zu seinem Kumpel gelaufen und hat ihm alles erzählt. Und Winogradow hat gar nicht weiter gefragt, offenbar weiß er genau, was für ein Schwein sein Neffe ist, und traut ihm alles Mögliche zu. Er hat ihn in die Klapsmühle gesteckt, ihn aus dem Verkehr gezogen, damit wir nicht an ihn rankommen.«
»Ob Kowaljow davon weiß? Die Situation ist immerhin ziemlich pikant. Einerseits ist Winogradow sein Freund, aber andererseits deckt er den Vergewaltiger seiner Tochter. Im Grunde ist allein die Tatsache, dass der Bursche sich hat einweisen lassen, ein Eingeständnis seiner Schuld.«
»Richtig«, stimmte Gordejew ihr zu. »Winogradow dürfte das Kowaljow verheimlicht haben.«
»Versuchen wir mal, etwas herauszufinden.« Nastja wählte eine Telefonnummer. »Verbinden Sie mich bitte mit Ella Leonidowna.« Sie legte die Hand auf den Hörer und erklärte Gordejew: »Eine Freundin. Arbeitet in der Nervenklinik. Wir haben zusammen den Psychodiagnostik-Kurs bei Beresin besucht. Ella? Grüß dich, hier ist Nastja Kamenskaja.«
Nach dem Austausch von Höflichkeiten bat Nastja ihre Freundin, möglichst herauszufinden, auf wessen Initiative Sergej Viktorowitsch Schumilin, geboren neunzehnhundertachtundsechzig, in die Klinik eingewiesen worden sei. Ella versprach zurückzurufen.
Der ersehnte Anruf kam kurz vor Feierabend. Nastja sprach mit Ella, schüttelte verblüfft den Kopf und ging zu Gordejew.
»Vitali Kowaljow persönlich hat Schumilin in die Klinik gebracht.«
»So ein Schwein«, flüsterte Gordejew.
Dieser Montag, der zweiundzwanzigste Juni, war genauso heiß wie die Tage davor. Wieder schleppte sich Nastja, um die Menschenmengen und die stickige Luft zu vermeiden, auf ihren von der Hitze geschwollenen Füßen an den Bushaltestellen vorbei nach Hause. Sie dachte darüber nach, dass es im Russischen für »Wahrheit« nur ein Wort gab, für das Gegenteil davon aber weit mehr: »Betrug«, »Lüge«, »Unwahrheit«, »Schwindel«. Vielleicht, weil die Wahrheit einfach war, die Lüge dagegen viele Gesichter hatte? Nastja wiederholte im Kopf die Synonyme für diese Wörter in allen Sprachen, die sie kannte. Sie war ganz versunken in ihre linguistischen Betrachtungen, darum entging ihr der mittelgroße dunkelhäutige Mann mit Brille, der ihr von der Petrowka an in einiger Entfernung gefolgt war. Jura Korotkow hätte den Mann bestimmt erkannt. Aber Jura war nicht da, und Nastja war nicht darauf trainiert, eine Beschattung zu bemerken.
Am Dienstag spitzte sich die Situation überraschend zu. Dima Sacharow rief Nastja an und teilte ihr mit, seine Agentur habe den Auftrag bekommen, Informationen über Irina Filatowa einzuholen. Der Auftrag wurde natürlich über einen Mittelsmann erteilt, und auch dessen Namen würde sein Chef ihm nicht nennen. Der Name des Klienten war Berufsgeheimnis. Nastja, normalerweise faul und träge, schoss wie der Blitz in Gordejews Büro.
»Viktor Alexejewitsch, Sacharow von der privaten Sicherheitsagentur ist bei mir am Telefon. Irgendjemand interessiert sich für die Biographie der
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