Anastasija 06 - Widrige Umstände
die Namen der Untersuchungsführer ins Gedächtnis rief, machte Nastja per Telefon Mischa Dozenko ausfindig und bat ihn, so schnell wie möglich zu kommen.
»Anton, Sie müssen noch eine Weile hier bleiben. Gleich kommt ein Kollege, der wird Ihnen helfen, sich an die Namen der Beschuldigten zu erinnern.«
»Aber ich sage doch: Ich erinnere mich nicht.«
»Das scheint Ihnen nur so.« Nastja lachte. »In Wirklichkeit können Sie nur nicht mit Ihrem Gedächtnis umgehen. Und Michail Alexandrowitsch ist dafür speziell ausgebildet.«
Anton setzte sich schmollend. Er ist nervös, dachte Nastja mitfühlend. Hat die Bitte seiner Betreuerin erfüllt, und das hat er nun davon.
»Hören Sie«, sagte Anton plötzlich, »im Oktober soll ich meine Dissertation verteidigen. Wenn Sie mir eine Rüge erteilen, wäre es möglich, das erst danach zu tun?«
»Hören Sie auf, Anton.« Nastja war ärgerlich. »Wirklich, Sie benehmen sich wie ein Kind! Niemand wird Ihnen eine Rüge erteilen, niemand wird etwas erfahren. Sie sind doch nicht den ersten Tag bei der Miliz, oder?«
Anton schüttelte unbestimmt den Kopf, beruhigte sich aber ein wenig. Nastja nahm alle Papiere vom Tisch, schloss sie im Safe ein, ließ den Doktoranden in ihrem Büro allein und ging zu Gordejew.
»Alles in Ordnung, Anastasija«, verkündete der erleichtert. »Rudnik ist nicht verreist. Er hat nur seine Frau ins Flugzeug gesetzt und ist in die Stadt zurückgefahren.«
»Hat er sie in Urlaub geschickt?«, fragte Nastja ganz mechanisch; ihre Gedanken waren weit weg von Rudnik und erst recht von dessen Frau. Doch bei Gordejews Antwort machte sie beinahe einen Luftsprung.
»Nach Ensk. Wahrscheinlich zu den Eltern. Sie sind doch erst vor anderthalb Jahren von dort nach Moskau gezogen.«
Das schöne Ensk! Wurde es in den letzten Tagen nicht ein bisschen zu oft erwähnt? Nastja teilte ihrem Chef ihre Vermutung mit.
»Vielleicht kennen sich Rudnik und Pawlow? Das könnte man wunderbar ausnutzen. Hast du Pawlow gesagt, dass du in Urlaub gehst?«
»Ja. Wie abgesprochen.«
»Sehr schön. Also, wir gehen folgendermaßen vor . . .«
Auf dem Rückweg in ihr Büro hörte Nastja schon vor der Tür laute Stimmen. Drinnen saßen Anton und Mischa Dozenko fast Arm in Arm und lachten. Wie sich herausstellte, hatten sie gemeinsam die Milizschule in Omsk besucht und erinnerten sich nun fröhlich an ihre Jugendstreiche. Ja, Papa hat wie immer Recht, dachte Nastja, man stößt überall auf Bekannte. Ein Glück, dass Pawlow in Moskauer Milizkreisen noch nicht viele Verbindungen geknüpft hat. Das würde die Arbeit sonst erheblich erschweren.
Sie legte Pawlows Vita vor sich auf den Tisch. Jurastudium, Arbeit in Partei- und Staatsorganen, neunzehnhundertsechsundachtzig zum Chef der Ermittlungsabteilung der Innenverwaltung des Gebiets Ensk ernannt. Wer war nur auf die Idee gekommen? Na ja, eigentlich nicht weiter erstaunlich, damals galt es als normal, Parteifunktionäre auf beliebige leitende Posten loszulassen. Pawlow verstand vermutlich wenig von Ermittlungsarbeit. Er war kein Profi. Er war von Beruf Verwaltungsmensch. Und in seiner Denkweise ein typisches Weib in Hosen. Nastja liebte die wundervolle Erzählung »Lüge« von Arkadi Awertschenko und las sie immer wieder. Das Leben bestätigte ihr, dass der alte Satiriker Recht hatte: Eine Frau errichtet, um eine Lappalie zu verbergen, einen ganzen Eiffelturm aus Lügen, und zwar ziemlich ungeschickt, die Konstruktion droht jeden Augenblick einzustürzen, dann stützt sie sie mit noch größeren Lügen ab und versinkt in Schwindeleien wie eine Fliege im Honig. Ein Mann dagegen bevorzugt die halbe Wahrheit und riskiert deshalb nicht, wegen einer Lappalie überführt zu werden. Also, Alexander Jewgenjewitsch, welche Wahrheit wollen Sie mit dem Märchen über Ihre große Liebe zu Irina vertuschen?
Kolja Selujanow kam herein und bat um Klebstoff und eine Schere. Während Nastja in ihrem Schreibtisch wühlte, ging er zum weit offenen Fenster und sah auf die Straße hinaus.
»Nastja, wo ist denn dein Verehrer heute? Ich kann ihn nirgends entdecken.«
»Welcher Verehrer?«
»Der gestern nach der Arbeit auf dich gewartet hat. Und vorgestern habe ich ihn auch gesehen.«
»Ohne Quatsch?«
Nastja war an Selujanows ständige Streiche und Witzeleien gewöhnt. Doch diesmal verursachte eine bange Unruhe ihr ein flaues Gefühl im Magen.
»Kolja, ich frage dich im Ernst. Ich habe keinen Verehrer, ich habe überhaupt niemanden außer
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