Anastasija 06 - Widrige Umstände
denn sie brauche für ihre Arbeit eine Statistik, die es im Informationszentrum in Moskau nicht gebe, nur vor Ort. Und sie erklärte mir, welche Angaben sie brauchte. Das war alles.«
»Irina Sergejewna hatte zuvor nie mit Ihnen über Ensk gesprochen?«
»Lassen Sie mich überlegen . . . Nein, ich glaube nicht. Sie hat mich nur einmal gefragt, wo sie verteidigen.«
»Wo sie was machen?«, fragte Nastja verständnislos.
»Wo die Einwohner von Ensk ihre juristischen Dissertationen verteidigen«, erläuterte Anton geduldig.
»Und, wo?«
»Normalerweise entweder in Moskau oder in Jekaterinburg, am Juristischen Institut. Das habe ich ihr gesagt.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
»Noch eine Frage, Anton. Hat Irina Sergejewna im Zusammenhang mit Ensk einmal den Namen Wladimir Nikolajewitsch erwähnt?«
»Kann mich nicht erinnern. Nein, ich glaube nicht.«
»Und den Namen Pawlow?«
»Nein.«
»Und in anderem Zusammenhang? Hat sie ihn da erwähnt?«
»Natürlich. Sie hat seine Thesen gesucht. Genauer gesagt, ich habe sie auf ihre Bitte hin gesucht.«
»Wann war das?«
»Vor etwa einem Jahr. Sie hat gesagt, es gibt eine interessante Dissertation, die ich mir mal ansehen sollte, aber sie wisse den Namen des Autors nicht mehr, nur noch den Titel. Ich habe das Thesenpapier in der Bibliothek der Akademie des Innenministeriums gefunden. Der Autor ist Pawlow.«
»Und jetzt bitte ganz präzise, Anton. Ich muss genau wissen, was zuerst war und was später. So genau wie möglich.«
»Erst das Thesenpapier, das ist ganz sicher. Ich weiß noch, ich habe die Erscheinungsdaten für Irina Sergejewna vom Titelblatt abgeschrieben, das Papier aber nicht gelesen, ich hatte es eilig. Ich habe noch gedacht: Bis zu den Bibliotheksferien habe ich noch einen Monat Zeit, ich lese es ein andermal. Die Akademiebibliothek ist vom ersten August bis zum ersten September geschlossen. Dann hatte ich viel zu tun und kam nicht mehr dazu, es zu lesen. Also, als ich ihr die Erscheinungsdaten brachte, las sie, dass die Dissertation am Lehrstuhl für Strafrecht der juristischen Fakultät der Universität Ensk geschrieben wurde, und fragte, wo Leute aus Ensk ihre Thesen verteidigen. Ich sagte es ihr, und sie zuckte die Achseln und meinte: ›Komisch, der hier in Saratow.‹ Über meine geplanten Dienstreisen sprachen wir kurz vor den Augustereignissen, ich bin kurz vor dem Putsch nach Ensk geflogen.«
»Kommen wir doch noch einmal auf Ensk zurück«, wechselte Nastja sanft das Thema, als sie meinte, Anton habe sich jetzt genügend an die Situation gewöhnt. »Sie sind ein vernünftiger Mensch, Sie sind Jurist, und Sie wissen genau, hier geht es um Mord. Ihr Versuch, etwas zu verbergen, ist sinnlos. Je hartnäckiger Sie schweigen, desto heftiger werden wir Ihnen auf den Leib rücken, und wir werden Sie nicht in Ruhe lassen, ehe wir wissen, was Sie in Ensk so Schlimmes getan haben, über das Sie nicht sprechen möchten. Irina Sergejewna können Sie nicht mehr schaden, sie ist tot. Haben Sie Angst um sich? Ich versichere Ihnen, wir alle hier sind erwachsene Menschen, und was immer Sie in Ensk angestellt haben, hier wird Ihnen keiner mit dem Finger drohen, zumal Sie auf Bitten Ihrer wissenschaftlichen Betreuerin gehandelt haben, eines Menschen also, von dem Sie abhingen. Soll ich raten, was Sie getan haben?«
Anton starrte noch immer auf die Wand.
»Nachdem Sie sich die Statistik für Irina Sergejewna aus dem Computer geholt hatten, gingen Sie in die Kartothek und ließen sich die Karteikarten für Strafverfahren geben, die im Laufe mehrerer Jahre nach Paragraph hundertfünfundneunzig, Absatz zwei, eingestellt wurden. Richtig?«
Er nickte gehetzt.
»Und dann? Was haben Sie dann gemacht? Kopien?«
»Nein.« Anton holte tief Luft, als wollte er ins Wasser springen. »Ich habe nur die Namen der Untersuchungsführer und der Beschuldigten rausgeschrieben und die entsprechenden Paragraphen. Ehrenwort, das war alles.«
»Wer hat Ihnen das denn erlaubt?«
»Ach«, Anton winkte schuldbewusst ab, »mich kennen dort alle, niemand hat mich bewacht.«
»Wo sind diese Aufzeichnungen jetzt?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Sie Irina Sergejewna gegeben.«
»Und Sie erinnern sich natürlich an keine Namen mehr?«
»Nur an die Untersuchungsführer, auch nicht an alle, nur an die, die am häufigsten auftauchten. An die Beschuldigten natürlich nicht.«
»Schreiben Sie auf, woran Sie sich erinnern.« Nastja reichte ihm ein Blatt Papier.
Während Anton sich
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