Anastasija 06 - Widrige Umstände
stand für registrierte Straftaten, »A« für aufgeklärt, »EV« für die durch Ermittlungsverfahren abgeschlossenen Fälle. Die Zeilen mit den Zahlen von fünf bis zehn enthielten die Zahl der Strafverfahren, die gemäß Paragraphen 5-10 der Strafprozessordnung eingestellt worden waren. »1+3« stand für Fälle, die nach Absatz 1 und 3 des Paragraphen 195 eingestellt worden waren, weil der Täter entweder unbekannt oder unauffindbar war. Und die spannende Zeile »2« enthielt die Strafverfahren, die nach Absatz 2 des Paragraphen 195 eingestellt worden waren, wegen schwerer Erkrankung der Person, die strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte. Die Zahl dieser Fälle, die bis 1986 bei unter drei Prozent lag, stieg abrupt an, als Sie, verehrter Alexander Jewgenjewitsch, Chef der Ermittlungsabteilung der Innenverwaltung im Gebiet Ensk wurden, und zwar auf ganze achtzehn Prozent. Was schloss die Filatowa daraus? Ich nehme an, das Gleiche wie ich, denn ich kann ihre Logik gut nachvollziehen. Sie begriff, dass es irgendwo einen korrupten Arzt geben musste, der nicht ohne Ihr Wissen fal-sche Diagnosen bescheinigte, die es ermöglichten, das Verfahren »bis zur Genesung«, das heißt für immer, einzustellen. Schmiergelder sind dabei mindestens an drei Stellen geflossen: an den Arzt, an den Untersuchungsführer und an Sie. Vielleicht gingen gar keine Zahlungen an Sie persönlich, vielleicht haben der Arzt und der Untersuchungsführer mit Ihnen geteilt. Ein hübsches Bild!
Aber selbst wenn das alles stimmt und Sie wirklich ein so schlechter Mensch sind, bleibt Irinas Interesse für das Gebiet Ensk, das sie zudem so geflissentlich geheim gehalten hat, noch immer ein Rätsel. Es kann nichts mit Ihnen persönlich zu tun haben, denn Sie haben mich endgültig davon überzeugt, dass Sie die Filatowa vor Ihrem Umzug nach Moskau noch nie gesehen hatten, auch wenn Sie hartnäckig das Gegenteil behaupten. Aber es muss einen Zusammenhang geben! Es muss!
Dritte Variante: Alles, was die Kolleginnen der Filatowa sagen, ist wahr. Pawlow bemüht sich vergebens um Irina, wird abgewiesen und fängt an, wie ihr Chef es ausdrückte, »an ihr herumzukritteln«. Er reizt Irina, bringt sie zur Weißglut, und sie sucht nach einem Mittel, ihn zu stoppen. Einer ihrer Kollegen fährt nach Ensk, und sie bittet ihn, ihr die Kriminalitätsstatistik mitzubringen. Die Statistik ist in jedem regionalen Informationszentrum offen zugänglich. Könnte stimmen, geht aber nicht ganz auf. Die Konflikte mit Pawlow begannen im Frühjahr, um diese Zeit liegen die Daten des Vorjahres bereits vor. In diesem Fall hätte die Tabelle der Filatowa auch das Jahr einundneunzig enthalten, doch sie reicht nur bis neunzehnhundertneunzig. Und überhaupt sieht Erpressung Irina nicht ähnlich, noch dazu aus so nichtigem Anlass. Was hätte sie zu Pawlow sagen können? Alexander Jewgenjewitsch, ich weiß, dass Sie Schmiergelder genommen haben, also hören Sie auf, meine Dokumente ständig zu kritisieren? Blödsinn. Außerdem bleibt noch immer die Frage offen, warum Pawlow lügt.
Vierte Variante – alle sagen die Wahrheit, so paradox das klingen mag. Irina war wirklich nicht Pawlows Geliebte und kam nervös und gereizt von den Begegnungen mit ihm aus dem Ministerium. Pawlow und Irina haben sich wirklich erst vor einigen Monaten kennen gelernt. Doch Pawlow kennt Irina seit vielen Jahren, sie ihn aber nicht. Dafür kennt sie einen gewissen Wladimir Nikolajewitsch, an den sie den ganzen zwölften Oktober einundneunzig denkt (das bekritzelte Kalenderblatt stammte von diesem Tag) und auch an dem Tag, als sie die Statistik des Gebiets Ensk auswertet. Am fünfzehnten Oktober steht in ihrem Schreibtischkalender die dienstliche Telefonnummer des Hauptsachverständigen im Stab des Innenministeriums, A. J. Pawlow.
Nastja war überzeugt: Irgendwo zwischen all diesen vielgestaltigen Wahrheiten lag die absolute Wahrheit.
Am Abend lag auf Gordejews Schreibtisch der Bericht über die Observation von Kowaljows »politischem Gegner« Boris Wassiljewitsch Rudnik. Gordejew machte mehrmals spöttisch »hm«, kaute wie üblich auf seinem Brillenbügel herum und rief Nastja zu sich.
»Anastasija«, sagte er streng, »wo sind deine zweihundert? Ich möchte wissen, ob ich die Jungs von Interpol abziehen kann. Wir haben zu wenig Leute, diese Woche haben sie uns noch vier Morde geliefert. Also, was ist?«
»Ziehen Sie sie ab«, antwortete Nastja fest. »Ich bin mir sicher, da ist nichts.
Weitere Kostenlose Bücher