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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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her, ich lauf mal ein paar Schritte.«
    Der Mann stand auf und ging unsicher zur Haustür.
    »Und?«
    »Na ja.«
    »Na schön, dann setz ich mich noch ein bisschen. Aber was treibst du dich eigentlich hier rum?«
    »Ich hab eine Bekannte zur Metro gebracht, und auf dem Rückweg hab ich dich gesehen. Na, ich geh dann, gute Nacht.«
    »Mach’s gut.« Der Betrunkene nickte ihm zum Abschied zu und fiel dabei fast von der Bank.
    Der Gallier kehrte auf sein Fensterbrett zurück. Im Treppenhaus brannte kein Licht, und er konnte den Mann auf der Bank gut sehen. Nach etwa zwanzig Minuten stand der auf, lief ein Stück auf und ab, überzeugte sich, dass er sicher auf den Beinen stand, und verschwand im Haus. Nach weiteren zehn Minuten verließ der Gallier das Haus und lief in Richtung Rigaer Bahnhof, hielt ein Schwarztaxi an und fuhr in die Wohnung, in der er übernachtete.
    Die Männer, die die Wohnung absicherten, in der sich Nastja befand, durften sich ablösen lassen und ausruhen.
    Gordejew entspannte seine Rückenmuskeln und versank im Sessel. Nachts war es schön, nicht so heiß. Man müsste am Tag schlafen können und nachts arbeiten! Er rief Nastja an.
    »Schlaf ein bisschen, Kind. Dein Verehrer ist auch schlafen gegangen.«
    »Ich kann nicht. Ich zittere am ganzen Leib.«
    »Nicht doch, Nastenka, nicht doch. Die Jungs sitzen in der Nachbarwohnung, die verpassen ihn nicht.«
    »Und wenn doch?«
    Ja, dachte Viktor Alexejewitsch, das ist bei uns geradezu krankhaft: sich bei niemandem sicher zu sein, niemandem vollkommen zu vertrauen. Trotzdem – wer war das Objekt? Der Mörder oder ein anderer? Wer würde kommen, um mit der Erpresserin Lebedewa abzurechnen?
    Nastja legte sich hin. Die langen schlaflosen Nächte machten sich bemerkbar, und sie sank in einen schweren, fieberartigen Halbschlaf. Sie träumte, sie stehe auf einem hohen, vollkommen glatten Felsen, von dem sie nicht hinunterklettern konnte. Auswegloses Entsetzen erfasst sie. Ich werde abstürzen, denkt sie, es gibt keinen Ausweg. Die Felswände sind alle steil und glatt, man kann sich nirgends festhalten. Ich werde sterben, das ist das Ende. Als Angst und Verzweiflung ihren Höhepunkt erreichen und unerträglich werden, kommt ihr der rettende Gedanke: Ich bin doch irgendwie hier hochgekommen, also muss es irgendwo einen Weg geben, ich muss ihn nur finden. Freude und Erleichterung waren so intensiv, dass Nastja erwachte und auf die Uhr sah: Sie hatte acht Minuten geschlafen. Sie schloss die Augen.
    Im großen Zimmer sitzt Oberst Gordejew am Tisch und schreibt konzentriert. Komischerweise in Uniform, mit Schulterstücken. In der ganzen Wohnung verteilt wartet das Festnahmekommando, Nastja versucht vergeblich, die Männer zu zählen. Vor dem Haus hält ein LKW, aus der Fahrerkabine steigt eine Frau mit hellem Haar, in einem hellblauen Mantel. Das ist doch eine Frau, denkt Nastja, das kann nicht der Gallier sein. Die Blondine hebt den Kopf, ihre Blicke treffen sich. Sie hat ein sympathisches, nicht mehr junges, fein geschnittenes Gesicht. Mein Gott, durchfährt es Nastja, das ist doch mein Tod, gleich kommt sie in die Wohnung, und ich sterbe. Die Frau geht ins Haus. Nastja meint, deutlich ihre Schritte auf der Treppe zu hören. »Viktor Alexejewitsch«, schreit sie. »Ich werde gleich sterben! Tun Sie doch etwas, retten Sie mich!« Aber Gordejew hebt nicht einmal den Kopf von seinen Papieren. Die Frau im blauen Mantel ist bereits vor der Wohnung. Nastja klammert sich an den Ärmel von Gordejews Uniformjacke. »Helfen Sie mir doch! Lassen Sie sie nicht hier rein!« Gordejew reißt sich unwillig und irgendwie angewidert los und entfernt sich. Die Männer des Festnahmekommandos treten schweigend beiseite, um die blonde Frau durchzulassen. Sie sieht Nastja streng an. »Na, guten Tag, meine Schöne«, sagt sie leise. »Das ist ein Irrtum!«, will Nastja schreien, »Sie wollen gar nicht zu mir, ich bin überhaupt nicht schön, das weiß jeder. Das ist ein Irrtum!« Sie spürt, wie sie rückwärts geschleudert wird, ins Dunkel. Ich bin tot, denkt Nastja, und mit diesem Gedanken wacht sie auf.
    Nastja nahm Träume sehr ernst. Träume waren Produkte der Gehirntätigkeit, fand sie, nichts träumte man ohne Grund. Tod im Traum war ein Anzeichen für eine Herzschwäche oder für einen leichten Anfall, den man im Traum gehabt hatte. Sie sollte einen Tee trinken, möglichst stark und mit Zucker.
    Sie kroch aus dem Bett und ging in die Küche. Die Finger gehorchten ihr kaum, in

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