Anastasija 06 - Widrige Umstände
stärker auf, damit das Rauschen lauter wurde. Aber Larissa hatte ihre Lektion offenbar gut gelernt, denn sie schob den Vorhang beiseite und rückte ganz dicht an ihn heran.
»Hast du auch Irina . . .?«
Der Gallier tat, als habe er nicht verstanden.
»Welche Irina?«
»Filatowa. Sie war meine Freundin. Sie wurde wegen dieses Manuskripts umgebracht.«
»Noch nie gehört.«
»Wenn du es nicht warst, wer dann?«
»Ich sage doch: noch nie gehört. Ich kenne keine Filatowa.«
»Ehrlich?«
»Wie kommst du darauf, dass ich sie kenne?«
»Dieses Exemplar des Manuskripts hat Irina mir gegeben.«
»Du bist ja gerissen! Du willst Pawlow hundertvierzig Riesen abknöpfen, um ihm das zu sagen? Für diese Information würde ich dir keine Kopeke geben.«
»Du nicht, aber Pawlow schon. Er würde sogar noch mehr dafür zahlen. Und wozu brauchst du das Manuskript?«
»Ich will mit Alexander Jewgenjewitsch von Mann zu Mann reden. Er gefällt mir nicht. Sieht so aus, als hätte er deine Freundin umgebracht.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben. Schluss, geh jetzt, Ende der Diskussion.«
Nastja ging folgsam zur Tür. Der Gallier drehte das Wasser ab und langte nach einem Handtuch. Nach dem Duschen fühlte er sich wesentlich besser. Natürlich hätte er ihr den Mord an der Filatowa gestehen können; sie hatte sowieso nicht mehr lange – morgen um diese Zeit war sie tot. Dafür hätte sie jetzt richtig Angst vor ihm und würde ihn nicht mehr mit ihren giftigen Sticheleien nerven. Aber der Gallier war überzeugt, dass er nichts gestehen durfte.
»Zieh den Bademantel an«, schlug Nastja ihm vor, als sie sah, dass er sich wieder anziehen wollte. »Das Hemd kannst du waschen, mein Häuslicher, das ist morgen früh trocken.«
»Nicht nötig«, erwiderte er wütend. Das fehlte noch: vor ihren Augen Wäsche waschen. Dazu müsste er die Taschen leeren, und dann würde sie sehen . . . Obwohl, sie würde sich vielleicht gar nichts dabei denken.
Aber er zog doch den Bademantel an; es widerstrebte ihm, das durchgeschwitzte Hemd über den sauberen Körper zu ziehen.
»Gehen wir ins Zimmer, wir haben lange genug in der Küche rumgesessen«, kommandierte er.
»Und wie lange werden wir noch so rumsitzen?«, fragte Nastja.
»Willst du schlafen? Leg dich hin, ich weck dich, wenn’s so weit ist.«
»Sonst noch was? Du hältst mich wohl für blöd – ich geh doch nicht schlafen, wenn ein fremder Mann in meiner Wohnung ist. Vielleicht bist du ja gar kein Bulle, sondern ein ganz gewöhnlicher Dieb.«
»Ich bin kein Bulle, wie oft soll ich dir das noch sagen!«, explodierte der Gallier.
»Dann beweis es mir«, verlangte sie ungerührt.
»Wie denn? Ich weiß nicht, wie ich dir das beweisen soll! Mach einen Vorschlag, ich bin mit allem einverstanden.«
»Jetzt hat sie ihn so weit«, kommentierte Gordejew zufrieden. »Mal sehen, wie er sich da rauswindet.«
»Viktor Alexejewitsch, verstehen Sie, was sie da macht?«, fragte Dozenko besorgt.
»Was sie da macht, das nennt man ›wissenschaftliches Herumstochern‹«, sagte Korotkow und lachte. »Sie probiert verschiedene Varianten aus, improvisiert aus dem Stegreif, um herauszufinden, warum er sie nicht tötet.«
»Verdammt nochmal, wo steckt Larzew?«, tobte Gordejew. »Der hätte jetzt hier zu sein. Michail, telefonier in den Krankenhäusern rum. Vielleicht ist ihm was passiert.«
»Kommen Sie herein, nehmen Sie von ihr Abschied«, flüsterte der Arzt, um Nadjuscha nicht zu wecken.
Larzew legte das Mädchen behutsam auf die Bank und ging steifbeinig in das Krankenzimmer. Natascha war mager wie ein kleines Mädchen, der dicke Bauch, an den er sich schon gewöhnt hatte, war weg. Wie sollte er von ihr Abschied nehmen? Wolodja hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Sie küssen? Er hatte noch nie im Krankenhaus von einem Angehörigen Abschied genommen. Hilflos nahm er die Hand seiner Frau, streichelte ihre Finger. Wie ist das möglich, dachte er, sie ist doch noch da, ich sehe sie doch, ich berühre sie, mir scheint, sie kann mich sogar hören. Und zugleich ist sie nicht mehr da. Sie ist noch warm. Und doch schon tot. Sein Verstand konnte es nicht fassen.
Erst auf der Bank kam er wieder zu sich, neben seiner schlafenden Tochter. Soll sie nur schlafen, dachte er. Sie wird es noch früh genug erfahren, noch früh genug weinen. Er lehnte sich an die kühle, mit Ölfarbe gestrichene Krankenhauswand und schloss die Augen. Später, später, alles später.
Was Nastja
Weitere Kostenlose Bücher