Anastasija 06 - Widrige Umstände
Kamenskaja mit dem Gallier tat, nannte man »das Pendel in Schwung bringen«. Leichte Scherze, dann ein ruhiges, unverbindliches Gespräch, dann gröbere Scherze, provozierendere, auf die ein vertrauliches Gespräch folgte, und so weiter, immer weitere Steigerungen. Jetzt musste sie die Phase des Scherzens mit einer beleidigenden Provokation beenden, um anschließend zu einem ernsthaften Gespräch zu wechseln. Sie konzentrierte sich.
»Es gibt eine Möglichkeit zu beweisen, dass du kein Bulle bist. Damit könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, du könntest dich nämlich zugleich davon überzeugen, dass meine Wohnung nicht abgehört wird. Was hältst du davon?«
»Klingt gut. Lass hören.«
Nastja ging auf ihn zu, blieb vor ihm stehen, als müsse sie sich sammeln, und schlug dann blitzschnell den Bademantel des Mörders auseinander. Gierig und ausgiebig musterte sie seinen hageren, muskulösen Körper, der keinerlei Tätowierungen aufwies. Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte.
»Also, was ist, mein Häuslicher? Im Kochen und Wäschewaschen bist du fit, und wie sieht’s mit dem Rest aus? Ihr Bullen dürft ja nicht mit Verdächtigen schlafen, das kann euch die Schulterstücke kosten. Also beweise mir, dass dich wirklich Pawlow geschickt hat und nicht jemand von der Petrowka«, sagte sie langsam.
»Wofür hältst du mich, für eine Maschine?« Der Gallier war empört. »Vielleicht habe ich keine Lust. Oder vielleicht gefällst du mir ja nicht? Und überhaupt, ich bin müde.«
»Du bist also nicht nur Bulle, sondern auch noch impotent.« Nastja nickte nachdenklich, als betrachte sie ein seltsames Präparat unterm Mikroskop. »Na klar, euer Job ist schwer und nervenaufreibend. Schade. Wir hätten alle Missverständnisse ausräumen können. Müssen wir uns also was Neues ausdenken, wenn du nun mal nicht gelernt hast, deine sexuellen Fähigkeiten zum Wohl der Heimat und unserer gemeinsamen Sache einzusetzen.«
Sie setzte sich aufs Fensterbrett, seitlich zum Gallier, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch aus dem Lüftungsfenster. Sie schwieg, während sie im Stillen bis hundert zählte.
»Sag mal, hast du Angst vorm Tod?«, fragte sie leise.
»Ein Larzew liegt in keinem Krankenhaus«, meldete Dozenko. »Aber eine Larzewa, Natascha Konstantinowna, sechsunddreißig Jahre alt, um vierzehn Uhr mit dem Notarztwagen von der Olchowskaja-Straße eingeliefert.«
»Seine Frau.« Gordejew hob den Kopf. »Was ist mit ihr?«
»Sie ist vor einer halben Stunde gestorben. Das Kind auch.«
»Mein Gott!«, stöhnte Gordejew. »Das ist ja furchtbar. Furchtbar . . . Wahrscheinlich hat er die ganze Zeit im Krankenhaus gesessen, während wir nach ihm gesucht haben.«
Gordejews Gedanken kreisten gleichzeitig darum, wie man Wolodja Larzew helfen könnte, der mit einem Schlag seine Frau und sein ungeborenes Kind verloren hatte, und darum, was sie mit dem Gallier machen sollten, dem Auftragskiller, der sich nur rund zweihundert Meter von ihnen entfernt aufhielt.
Zwölftes Kapitel
Vor dem Tod hatte der Gallier keine Angst. Er hatte ihn oft genug gesehen, ihn vielen Menschen selbst gebracht. Von seinen Händen war der Tod weder Furcht einflößend noch qualvoll. Er wollte gern glauben, dass auch sein eigenes Ende schnell und leicht kommen würde. Überhaupt konnte man nur etwas fürchten, das nicht allen widerfährt. Aber wenn es unausweichlich war, wenn jeder Mensch sterben musste, was hatte es dann für einen Sinn, sich davor zu fürchten? Ob man sich fürchtete oder nicht, das Ende war für alle gleich. Und er hatte nicht so viel Freude am Leben, dass er den Verlust bedauern würde.
Als er, ein abgebrochener Medizinstudent, damals seinem Paten begegnet war, glaubte er, jung und dumm, das Leben in einer kriminellen Organisation sei ein einziges Fest. Von dem vielen Geld, das man für ein, zwei Aufträge im Jahr bekam, konnte man sich ein ziemlich luxuriöses Leben leisten: Sommerurlaub am Meer, die teuersten Nutten, den besten Kognak. Aber im Laufe der Jahre stellte sich heraus, dass man sich, wenn man weitere Aufträge bekommen wollte, still, unauffällig und umsichtig verhalten musste. Der Preis für das große Geld war die Einsamkeit. Der Gallier wusste: Wenn er starb, würde niemand trauern. Niemand würde bemerken, dass er nicht mehr lebte. Sollte man so einem Leben etwa nach weinen? Auch vor dem Gefängnis hatte der Gallier keine Angst. Er hatte immer eine rettende Tablette bei sich, um sofort zu
Weitere Kostenlose Bücher