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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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sich sehr für dieses Thema zu interessieren. Das Feuer
brennt rasch herunter. Wir haben nur noch ein paar Minuten hier. Warum gehst du nicht schon vor und zeigst ihm diese Arbeiten? Wir löschen das Feuer und räumen noch auf.«
    Alle schwiegen eine Zeitlang, da jeder von uns – ich eingeschlossen – verblüfft zur Kenntnis genommen hatte, was gerade passiert war: Ich hatte Jesry herumkommandiert. Das war noch nie da gewesen! Aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich um andere Dinge zu kümmern.
    »Geht klar«, sagte Jesry und stapfte mit Barb im Schlepptau in die Dunkelheit. Wir Übrigen standen schweigend da, bis der Schall von Barbs Fragen durch das Zischen des Feuers und das Plätschern des Flusses über eisigen Sandbänken übertönt wurde.
    »Du willst über die Tafel sprechen«, sagte Lio voraus.
    »Es ist Zeit, das Ding herunterzuholen und anzuschauen«, sagte ich.
    »Ich wundere mich, dass du es nicht viel eiliger hattest«, sagte Tulia. »Ich kann es gar nicht erwarten, dieses Ding zu sehen.«
    »Denk an das, was Orolo widerfahren ist«, sagte ich. »Er war unvorsichtig. Vielleicht war es ihm aber auch gleichgültig, ob er erwischt wurde.«
    »Ist es dir gleichgültig?«, fragte Tulia. Es war eine unverblümte Frage, die den anderen Unbehagen bereitete. Aber niemand stahl sich davon. Gespannt auf meine Antwort, schauten mich alle an. Der Schmerz, der mich in dem Moment getroffen hatte, als Statho Orolos Namen rief, begleitete mich immer noch, aber ich hatte die Erfahrung gemacht, dass er sich blitzartig in Zorn verwandeln konnte. Keinen Zorn, bei dem man sich in Stücke reißen möchte, sondern kalte, unerbittliche Wut, die sich in meinen Eingeweiden festsetzte und mir ein paar höchst unangenehme Gedanken eingab. Sie verzerrte mein Gesicht; das wusste ich, weil jüngere Fids, die mich immer freundlich gegrüßt hatten, wenn ich ihnen in einem Wandelgang oder auf der Wiese begegnete, jetzt den Blick abwandten.
    »Offengestanden, ja«, sagte ich. Das war eine Lüge, aber sie fühlte sich gut an. »Es ist mir egal, ob ich verstoßen werde. Aber ihr steckt da auch alle mit drin, deshalb werde ich um euretwillen vorsichtig sein. Denkt dran, diese Tafel enthält womöglich keinerlei nützliche Information. Und selbst wenn sie es doch tut, kann es sein, dass wir monate- oder sogar jahrelang hineinstarren müssen, bevor wir irgendetwas
sehen. Wir sprechen hier also über eine langwierige und geheime Aktion.«
    »Mir scheint aber, dass wir Orolo den Versuch schuldig sind«, sagte Tulia.
    »Ich kann sie herunterbringen, wann immer ihr wollt«, sagte Lio.
    »Ich kenne eine Dunkelkammer unter Shufs Dotat, wo wir sie anschauen könnten«, sagte Arsibalt.
    »Sehr gut«, sagte ich. »Ich brauche nur ein bisschen Hilfe von euch. Den Rest erledige ich selbst. Wenn sie mich erwischen, werde ich sagen, dass ihr nichts davon wusstet, und für alles, was passiert, die Verantwortung übernehmen. Sie werden mir Kapitel Nummer sechs geben, oder Schlimmeres. Und dann werde ich hier hinausgehen und versuchen, Orolo zu finden.«
    Diese Worte riefen bei Tulia und Lio unterschiedliche emotionale Reaktionen hervor. Sie schien den Tränen nah zu sein, und er sah kampflustig aus. Arsibalt dagegen war nur ungeduldig mit mir, weil ich so langsam war. »Es steht etwas Größeres auf dem Spiel als die Frage, ob du Ärger bekommst«, sagte er. »Du bist ein Avot, Fraa Erasmas. Du hast gelobt, die Regel zu befolgen. Das ist das Erhabenste und Wichtigste in deinem Leben. Das ist es, was du aufs Spiel setzt. Ob du erwischt und bestraft wirst oder nicht, ist nebensächlich.«
    Arsibalts Worte hinterließen einen starken Eindruck bei mir, weil sie der Wahrheit entsprachen. Ich hatte eine Antwort parat, aber es war keine, die ich laut hätte äußern können: Ich achtete diesen Eid nicht mehr. Zumindest vertraute ich denen nicht mehr, die die Aufgabe hatten, die Regel durchzusetzen, auf die ich ihn geschworen hatte. Das konnte ich jedoch nicht gut zu diesen meinen Freunden sagen, die ihn nach wie vor achteten. Mein Verstand arbeitete eine Weile auf der Suche nach einer angemessenen Reaktion auf Arsibalts Herausforderung, und die anderen begnügten sich damit, da zu stehen, in dem erlöschenden Feuer herumzustochern und darauf zu warten, dass ich das Wort ergriff.
    »Ich vertraue Orolo«, sagte ich schließlich. »Ich vertraue darauf, dass er in seinem Bewusstsein auf keine Weise die Regel verletzte. Dass er

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