Anathem: Roman
ein Blatt Zeichenpapier und verstaute sie hinter einer Munitionskiste; Lio konnte sie später jederzeit herausholen.
Die Frage war jetzt nur: War meine Abwesenheit wohl irgendeinem der Zehner aufgefallen? Aber in einer Gruppe von dreihundert Leuten konnte so etwas leicht unbemerkt bleiben.
Für den Fall, dass jemand fragen sollte, legte ich mir die Geschichte zurecht, dass Orolo eine Anspielung auf das gemacht hatte, was passieren würde (was er, wenn ich es mir recht überlegte, sogar getan hatte, nur war ich zu begriffsstutzig gewesen, um es zu begreifen) und dass ich den Aut geschwänzt hatte, weil ich fürchtete, es nicht ertragen zu können. Damit würde ich mir immer noch Ärger einhandeln. Das kümmerte mich nicht besonders. Sollten sie mich doch ausstoßen; ich würde herausfinden, wohin Orolo gegangen war – vermutlich zu Blys Koppie – und ihn dort aufsuchen.
Doch wie sich herausstellte, brauchte ich diese Lüge nie jemandem zu erzählen. Niemand hatte bemerkt, dass ich fehlte, oder wenn doch, dann war es ihnen egal.
Die Geschichte, wie es zu Orolos Verstoßung gekommen war, musste im Laufe der nächsten paar Wochen rekonstruiert werden, wie ein Schädel, der bei einer archäologischen Ausgrabung Stück für Stück wieder zusammengesetzt wird. Tagelang irrten wir herum, als Gerüchte oder überzeugende falsche Daten uns auf einen vielversprechenden Weg schickten, der sich erst später als logische Sackgasse entpuppte. Wenig hilfreich war dabei, dass wir alle das psychische Äquivalent einer Verbrennung dritten Grades erlitten hatten.
Irgendwie hatte er Tage vor der Apert gewusst, dass es im Zusammenhang mit dem Sternrund Ärger geben würde. Er hatte Jesry damit beauftragt, ein paar Berechnungen anzustellen, ihm jedoch nicht erlaubt, die photomnemonischen Tafeln zu sehen, von denen
die Daten stammten; genau genommen hatte er große Mühe darauf verwendet, die Art seiner Arbeit vor Jesry und seinen anderen Studenten zu verbergen, vielleicht, um sie vor irgendwelchen Folgen zu schützen.
Als Handwerker Quin über die technischen Möglichkeiten von Flecs Spulocorder gesprochen hatte, war Orolo der Gedanke gekommen, dass er mithilfe eines solchen Geräts kosmographische Beobachtungen machen könnte. In der neunten Nacht der Apert, nachdem sie das Sternrund verriegelt hatten, war Orolo zum Bienenhaus gegangen und hatte mehrere Steigen Met gestohlen. Er kleidete sich so, dass er wie ein extramurischer Besucher aussah, und ging mit einem großen Bierkühler, in dem er die Beute versteckt hatte, durch das Jahrzehnttor hinaus. Er traf sich mit irgendeinem zwielichtigen Typen, den er vermutlich aus einer der Bars kannte, in denen er sich herumgetrieben hatte. Ja vielleicht hatte er während der Apert nur deshalb solche Orte aufgesucht, weil er genau so eine Person brauchte. Im Tausch für den Met hatte Orolo einen Spulocorder übernommen.
Der kleine Weinberg, in dem Orolo seiner Nebenbeschäftigung nachging, war vom Mynster aus schwer einzusehen. Im Winter ging er manchmal dorthin, um die Spaliere auszubessern und die Reben zu schneiden. In den Wochen nach der Apert entwickelte er dort ein rudimentäres Observatorium, bestehend aus einem senkrechten Pfosten, der etwas größer als ein Mensch und frei drehbar war, und einem in Augenhöhe kreuzweise daran festgebundenen Querstück, das man auf und ab schwenken konnte. In dieses Querstück hatte er eine Vertiefung für den Spulocorder geschnitzt. Der Pfosten und das Querstück ermöglichten es ihm, den Spulocorder über längere Zeit ruhig zu halten, während er sein Ziel am Himmel verfolgte. Dank der Bildstabilisierung, des Zooms und der Restlichtverstärkung des Gerätes hatte er eine ordentliche Sicht auf das, was ihn so neugierig machte.
Die Vorstellung, dass Orolo den Konzent bestahl, sich während der Apert mit einem Kriminellen verschwor und im Weinberg verbotene Beobachtungen anstellte, schockierte jeden von uns, aber die Geschichte war plausibel und stellte genau die Art von logischem Plan dar, wie Orolo ihn sich ausgedacht haben konnte. Früher oder später fanden wir uns alle damit ab.
Meine Rolle in der Geschichte veranlasste manche Edharier
dazu, mich als Verräter zu betrachten – als den Burschen, der Orolo an die Regelwartin verkauft hatte. Vor dem Anathem hätte mich so etwas vor lauter schlechtem Gewissen Nacht für Nacht wachgehalten. In Nächten mit geradem Datum hätte ich mich wegen meiner Enthüllungen gegenüber Spelikon schuldig
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