Anathem: Roman
Blickfeld des Auges.«
»So ist es.«
»Kannst du es heranzoomen?«
»Selbstverständlich.«
»Kannst du seinen Titel lesen?«
»Wie sich herausstellt, ist es gar kein Buch, Lio. Es ist eine Schutzhülle – genau wie die, die Sammann am ersten Tag da oben gefunden hat. Außer dass diese groß und schwer ist, denn sie enthält …«
»Eine weitere Tafel!«, rief Lio aus und überlegte dann. »Ich frage mich, was das bedeutet.«
»Tja, wir müssen davon ausgehen, dass er sie irgendwo anders im Sternrund an sich genommen hat.«
»Er lässt sie nicht dort, vermute ich.«
»Nein. Als er mit dem Essen fertig ist, nimmt er sie mit.«
»Ich frage mich, warum er ausgerechnet diesen Tag gewählt hat, um sich eine Tafel zu schnappen.«
»Also, mir fällt gerade ein, dass es um Tag neunundsechzig herum gewesen sein muss, als Fraa Spelikon mit seinen Nachforschungen über Orolo so richtig in Fahrt kam. Nun wirst du dich vielleicht erinnern, dass ich, als ich während des Anathems an Tag achtundsiebzig hier heraufschlich, das M & M überprüfte …«
»Und es leer vorfandest«, sagte Lio nickend. »Also: An Tag neunundsechzig befahl Spelikon Sammann vermutlich, die Tafel zu holen,
die Orolo im M & M gelassen hatte. Was Sammann tat. Aber Spelikon wusste nichts von der, die du in das Auge der Clesthyra gesteckt hattest, und fragte deshalb auch nicht nach ihr.«
»Sammann wusste aber von ihr«, erinnerte ich ihn. »Er hatte sie an Tag zwei bemerkt.«
»Und beschlossen, Spelikon nichts davon zu sagen. Aber an Tag neunundsechzig versuchte er nicht, die Tatsache zu verschleiern, dass er sich soeben Orolos Tafel geholt hatte.« Lio schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es nicht. Warum sollte er riskieren, dass du das weißt?«
Ich warf die Hände in die Luft. »Vielleicht ist es gar kein so großes Risiko für ihn. Er ist ja schon ein Ita. Was können sie ihm noch anhaben?«
»Da ist was dran. Sie können nicht annähernd so große Angst vor der Regelwartin haben wie wir.«
Es ärgerte mich etwas, daran erinnert zu werden, dass wir Angst hatten, aber in Anbetracht der ganzen Heimlichtuerei der letzten Zeit hatte ich dem nichts entgegenzusetzen.
Mir fiel auf, dass ich dabei gewesen war, mich zu berappeln. Mich von Fraa Orolos Verlust zu erholen. Zu vergessen, wie traurig und wütend ich war. Und als Lio die Regelwartin erwähnte, wurde ich wieder daran erinnert.
Jedenfalls folgte jetzt ein langes Schweigen, während Lio das alles verdaute. Wir bekamen sogar einiges geschafft. In Sachen Unkraut, meine ich.
»Gut«, sagte er schließlich, »und was passiert dann?«
»Tag siebzig, bewölkt. Tag einundsiebzig, Schnee. Tag zweiundsiebzig, Schnee. Kann nichts sehen, weil das Objektiv zugeschneit ist. Tag dreiundsiebzig, strahlendes Wetter. Als Sammann kommt, ist der Schnee zum größten Teil geschmolzen. Nachdem er alles sauber gemacht hat, isst er zu Mittag. Er trägt eine Schutzbrille.«
»Eine Sonnenbrille?«
»Größer und dicker.«
»Wie die, die Bergsteiger tragen?«
»Das dachte ich zuerst auch«, sagte ich. »Ich musste mir Tag dreiundsiebzig sogar mehrmals anschauen, bevor es mir klar wurde.«
»Dir was klar wurde?«, fragte Lio. »Es war hell, es lag Schnee, er trug eine dunkle Brille.«
»Eine richtig dunkle«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass es eine
herkömmliche Sonnenbrille war, wie jemand, der viel draußen ist, sie tragen würde. Ich habe diese Schutzbrille vorher schon mal gesehen, Lio. Als ich Cord und Sammann während der Apert in der Maschinenhalle sah, trugen sie diese Dinger, um ihre Augen vor einem Lichtbogen zu schützen. Einem Lichtbogen, der so hell war wie die Sonne.«
»Aber warum sollte Sammann plötzlich anfangen, in einer solchen Aufmachung die Objektive zu säubern?«
»Genau genommen hat er sie während des Säuberns gar nicht an. Da hängt sie an einem Bändel um seinen Hals«, sagte ich. »Dann setzt er sie auf und isst wie gewohnt zu Mittag. Aber während des Essens starrt er die ganze Zeit direkt in die Sonne. Sammann beobachtet die Sonne .«
»Und das hat er vor Tag neunundsechzig nicht getan?«
»Nein. Nie.«
»Glaubst du denn, er hat …«
»Womöglich etwas aus Fraa Orolos Tafel erfahren?«, sagte ich. »Oder direkt von Spelikon? Oder gerüchteweise von anderen Ita in anderen Konzenten, mit denen er über das Retikulum spricht oder was auch immer sie tun?«
»Warum sollte er die Sonne beobachten? Das ist etwas vollkommen anderes, als du gemacht hast,
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