Anathem: Roman
beschäftigt.«
»Oder – was wahrscheinlicher ist – Ignetha Foral glaubte das irrtümlicherweise, worauf sie Paphlagon herausgeholt hat und ihn jetzt zu einem fruchtlosen Unterfangen verdonnert«, sagte Jesry.
»Ich halte sie für ziemlich klug«, wandte Tulia ein, doch Jesry hörte sie gar nicht, denn in seinem Kopf nahm gerade ein Entschluss Gestalt an. Er wandte sich mir zu. »Ich möchte da runtergehen und mir das mit dir anschauen«, sagte er. »Oder ohne dich, wenn du zu tun hast.«
Aus ungefähr zwölf verschiedenen Gründen war diese Vorstellung
mir zuwider, aber das konnte ich nicht sagen, ohne den Eindruck zu erwecken, dass ich mich wie ein Schwein verhielt und die Tafel ganz für mich haben wollte. »Gut«, sagte ich.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, fragte Tulia – und klang dabei, als täte sie es eher nicht. Doch bevor das in einen richtigen Streit ausarten konnte, wurden wir alle auf Suur Ala aufmerksam, die über die Wiese geradewegs auf uns zusteuerte. »Oje«, sagte Jesry.
Suur Ala sah auf eine Art ungewöhnlich aus, die ich nie so recht hatte definieren können; manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich sie bei Vorträgen oder während der Provene anstarrte und versuchte, aus ihrer Miene schlau zu werden. Sie hatte einen runden Kopf auf einem schlanken Hals, in letzter Zeit durch einen Kurzhaarschnitt betont, den sie sich während der Apert hatte machen lassen; seitdem war er von einer der Suurs in Form gehalten worden. Sie hatte große Augen, eine feine, scharfgeschnittene Nase und einen breiten Mund. Sie war klein und knochig, wo Tulia üppig war. In jedem Fall hatte ihr Äußeres etwas, das mit ihrer Seele in Einklang stand.
Sie verschwendete keine Zeit mit langen Begrüßungsformeln. »Zum achthundertsten Mal in den letzten drei Monaten steht Fraa Erasmas im Zentrum einer heißen Diskussion. Sorgfältig außerhalb der Hörweite anderer. Und dazu noch bedeutsame Blicke zum Himmel und zu Shufs Dotat«, legte sie los. »Ihr braucht euch gar nicht herauszureden, ich weiß, dass ihr irgendwas vorhabt. Schon seit Wochen.«
Eine ganze Weile standen wir alle da. Mein Herz pochte. Ala hatte sich vor uns dreien aufgepflanzt und suchte mit ihren Scheinwerferaugen unsere Gesichter ab.
»Also gut«, sagte Jesry, »wir verzichten darauf.« Das war aber schon alles, was er sagte. Darauf folgte noch einmal ein langes Schweigen. Ich rechnete damit, dass Ala die Zornesröte ins Gesicht stieg. Dass sie die Drohung aussprach, uns die Inquisition auf den Hals zu hetzen. Stattdessen fiel ihr Gesicht langsam in sich zusammen. Einen Moment lang dachte ich, sie könnte eine andere Emotion zeigen – was genau, konnte ich nicht sagen. Doch sie ging unmittelbar zu einem neutralen, entschiedenen Blick über, kehrte uns den Rücken und begann sich zu entfernen. Nachdem sie ein paar Schritte gemacht hatte, ging Tulia hinter ihr her und ließ Jesry und mich allein. »Das war unheimlich«, bemerkte er.
Ich konnte kaum reagieren. Das jämmerliche Gefühl, das mich in der Nacht, als Ala dem Neuen Zirkel beigetreten war, in meiner Zelle wach gehalten hatte, hatte mich jetzt wieder überkommen.
»Glaubst du, sie verpfeift uns?«, fragte ich ihn.
Dabei versuchte ich, meine Worte möglichst unglaubhaft klingen zu lassen, wie etwa: Bist du denn wirklich so blöd zu glauben, dass sie uns verpfeift? , aber Jesry nahm sie für bare Münze. »Es wäre eine großartige Möglichkeit, bei der Regelwartin zu punkten.«
»Aber sie hat darauf geachtet, sich zu uns zu gesellen, als sonst niemand in der Nähe war«, betonte ich.
»Vielleicht in der Hoffnung, irgendein Geschäft mit uns auszuhandeln?«
»Was haben wir denn in Sachen Geschäft schon anzubieten?!«, schnaubte ich.
Jesry überlegte und zuckte die Achseln. »Unsere Körper?«
»Jetzt bist du aber wirklich eklig. Warum sagst du nicht ›unsere Zuneigung‹, wenn du schon solche Witze machst?«
»Weil ich glaube, dass ich keinerlei Zuneigung zu Ala verspüre«, sagte Jesry, »und sie ebenso wenig für mich.«
»Jetzt komm schon, so schlimm ist sie nicht.«
»Wie kannst du das behaupten, nach dieser kleinen Vorstellung, die sie uns eben gegeben hat?«
»Vielleicht hat sie versucht, uns zu warnen, dass wir zu auffällig sind.«
»Tja, damit hätte sie nicht mal unrecht«, gab Jesry zu. »Wir sollten aufhören, im Freien zu reden, wo der ganze Math uns beobachten kann.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ja. Das Kellergeschoss von Shufs
Weitere Kostenlose Bücher