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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Auf der Wiese erhob sich Applaus, aber er war zögernd. Nervös. Er verebbte, bevor er richtig aufgebrandet war.
    »Ich komme mir vor wie ein Idiot«, sagte Arsibalt. Er drehte sich um und schaute mich an. »Wenn ich an all die Dinge in meinem Leben denke, über die ich mir Sorgen gemacht oder vor denen ich
Angst gehabt habe – und jetzt ist klar, dass ich mich vor den falschen Dingen gefürchtet habe.«
     
    Um drei Uhr morgens läuteten sie Voko.
    Niemand scherte sich an der merkwürdigen Zeit. Geschlafen hatte sowieso niemand. Die Leute erschienen langsam und spät, denn die meisten von ihnen hatten Bücher und andere Dinge bei sich, von denen sie dachten, sie könnten sie brauchen, falls ihre Namen gerufen würden.
    Statho evozierte siebzehn.
    »Lio.«
    »Tulia.«
    »Erasmas.«
    »Arsibalt.«
    »Tavener.« Und noch ein paar Zehner.
    Ich trat über die Schwelle in den Chorraum – ein Schritt, den ich Tausende von Malen gemacht hatte, um die Uhr aufzuziehen. Doch wenn ich die Uhr aufzog, wusste ich immer, dass ein paar Minuten später Fraa Mentaxenes die Tür wieder öffnen würde. Diesmal kehrte ich dreihundert Gesichtern den Rücken, die ich nie wiedersehen würde – es sei denn, sie würden evoziert und man schickte sie nach – tja, wo auch immer ich hingeschickt wurde.
    Ich fand mich mit einigen wieder, die ich gut kannte, und manche dagegen waren mir fremd: Hunderter.
    Das Anstimmen von Namen hörte auf. Es waren so viele gewesen, dass ich nicht mehr hatte mitzählen können und annahm, wir wären fertig. Ich schaute Statho in der Erwartung an, dass er zur nächsten Phase des Aut überging. Er starrte die Liste in seiner Hand an. Seine Miene war schwer zu deuten: Sein Gesicht und sein Körper waren steif geworden. Mehrmals blinzelte er langsam und hielt die Liste an die ihm am nächsten stehende Kerze, so als hätte er Schwierigkeiten mit dem Lesen. Er schien immer wieder dieselbe Zeile zu überfliegen. Schließlich zwang er sich, den Blick zu heben, und schaute unmittelbar durch den Chorraum auf den Schirm der Millenarier.
    »Voko«, sagte er, aber es kam so heiser heraus, dass er sich erst noch einmal räuspern musste. »Voko Fraa Jad von den Millenariern.«
    Alles verstummte; vielleicht war es aber auch das Blut, das in meinen Ohren kochte.

    Darauf folgte ein langes Warten. Dann öffnete sich knarrend die Tür des Tausenderschirms, um die Silhouette eines alten Fraas zu offenbaren. Er stand einen Augenblick da und wartete, bis der Staub sich gesetzt hatte – diese Tür wurde nicht besonders häufig geöffnet. Dann trat er hinaus in den Chorraum. Jemand schloss hinter ihm die Tür.
    Statho sagte noch ein paar Worte, um uns feierlich zu evozieren. Wir sprachen die Worte, mit denen man die Evokation beantwortete. Die Avot hinter den Schirmen stimmten ihr Klage- und Abschieds-Anathem an. Sie alle sangen aus vollem Herzen. Die Tausender ließen mit einer mächtigen, krächzenden Basslinie das Mynster erbeben, so tief spürte man sie, mehr als man sie hörte. Das bewirkte, mehr als der Gesang meiner Dezenarierfamilie, dass mir ein Schauer über den Rücken fuhr, die Nase lief und die Augen brannten. Die Tausender würden Fraa Jad vermissen, und sie sorgten dafür, dass er das tief in seinem Innern spürte.
    Ich schaute schnurgerade nach oben, so wie Paphlagon und Orolo es getan hatten. Das Licht der Kerzen drang nur ein kleines Stück den Schacht hinauf. Aber in Wirklichkeit tat ich das nicht in dem Bemühen, irgendetwas zu sehen. Ich tat es, um zu verhindern, dass sich aus meinen Nasenlöchern und Augen eine Sintflut ergoss.
    Die anderen um mich herum gerieten in Bewegung. Ich senkte den Kopf, um zu sehen, was passierte. Ein junger Hierarch führte uns hinaus.
    »Weißt du, es gibt eine Hypothese, nach der wir jetzt einfach in eine Gaskammer gebracht werden«, murmelte Arsibalt.
    »Halt die Klappe«, sagte ich. Da ich nicht noch mehr solches Zeug von ihm hören wollte, trödelte ich und ließ ihn ein ganzes Stück vorausgehen. Was eine Weile dauerte, da er die Hälfte seiner Kulle zu einem Sack geformt hatte und eine kleine Bibliothek mitschleppte.
    Die Hierarchen in ihren offiziellen purpurroten Gewändern führten uns den Mittelgang des leeren nördlichen Langhauses hinunter und von dort zur Vorhalle unmittelbar im Tagestor. Wir versammelten uns unter der großen Planetenmaschine. Das Tagestor stand offen, aber der Platz jenseits davon war leer. Kein Luftfahrzeug wartete dort auf uns. Keine Busse. Nicht

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