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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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bereitet.«
    »Und das wäre, Fraa Erasmas?«
    »Warum sieht der Millenariermath aus, als würde er glühen?«
    »Was?«
    »Schau ihn dir an«, sagte ich.

    Er drehte sich um und hob das Kinn, um zu der Klippe hinaufzuschauen. Sie glühte rubinrot. Das tat sie normalerweise nicht.
    Natürlich sahen wir die ganze Zeit schwache Lichter dort oben. Und bei entsprechendem Wetter fingen die Mauern manchmal das Licht der untergehenden Sonne ein, so wie während der Apert, als Orolo und ich uns das angeschaut hatten. Während der letzten paar Minuten, in denen das Zwielicht sich verstärkt hatte, war mir ein roter Schein über dem Math aufgefallen, und ich hatte gedacht, das müsste wieder dieses Phänomen sein. Aber die Sonne war inzwischen ganz untergegangen. Und dieses Licht war eine der Sonne ausgesprochen unähnliche Rotschattierung. Es besaß eine körnige, funkelnde Eigenschaft.
    Und es kam aus der falschen Richtung. Sonnenlicht hätte die nach Westen liegenden Flächen des Math und der Klippe beleuchtet. Dieses sonderbare Licht dagegen fiel auf Dächer, Brüstungen und Turmspitzen. Alles darunter lag im Schatten. Es war fast, als schwebte irgendein Luftfahrzeug hoch über der Klippe und ließe ein Licht geradewegs nach unten strahlen. Wenn das jedoch der Fall war, schwebte es so weit oben, dass wir es weder sehen noch hören konnten.
    Die Wiese füllte sich mit Fraas und Suurs, die aus den Klostrumgebäuden kamen, um sich das anzuschauen. Die meisten schwiegen – wie Deolatisten, die ein himmlisches Omen anstarrten. Doch innerhalb einer Gruppe von Theorikern, die ganz in der Nähe standen, kam eine Diskussion auf, in der Wörter wie Laser , Farbe und Wellenlänge fielen. Das half meinem Gedächtnis auf die Sprünge; ich wusste, wo ich diese körnige Art von Licht schon einmal gesehen hatte: die Laserleitstern-Anlage am M & M.
    Und das war des Rätsels Lösung. Ein Laserstrahl konnte über eine große Entfernung scheinen, ohne sonderlich stark zu streuen. Das Ding, von dem aus dieses Licht auf den Millenariermath fiel, musste nicht in der Nähe sein. Es konnte Tausende von Meilen entfernt sein. Es konnte – konnte nur – das außerarbrische Raumschiff sein.
    Ausrufe und sogar ein wenig Applaus stiegen von der Wiese auf. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass sich hinter den Mauern des Millenariermaths eine Rauchsäule erhob. Ich musste kräftig schlucken und war für einen Moment sehr schockiert, denn ich dachte, der Laser setzte den Math in Brand! Er war ein Todesstrahl!
Dann gewann mein gesunder Menschenverstand die Oberhand. Um etwas niederzubrennen, brauchte man einen Infrarotlaser, dessen Licht die Dinge heiß machen würde. Dieser Laser war erklärtermaßen nicht infrarot, weil wir ihn sehen konnten. Der Rauch stammte nicht von brennenden Gebäuden. Die Tausender erzeugten ihn selbst. Sie warfen Gras oder Ähnliches auf lodernde Feuer und erfüllten so die Luft über ihrem Math mit Rauch und Dampf.
    Es war unmöglich, einen Laserstrahl von der Seite zu sehen, wenn er leeren Raum oder saubere Luft durchquerte, aber wenn man ihm Rauch oder Staub entgegenschickte, streuten die Teilchen Licht in alle Richtungen und ließen den Strahl als funkelnde Linie im All hervortreten.
    Das funktionierte. Dieser Strahl war vielleicht Tausende von Meilen lang. Das meiste davon würden wir nie sehen können – den Teil, der durch das Vakuum oberhalb der Atmosphäre ging. Doch der von den Tausendern erzeugte Rauch gab uns die Möglichkeit, die letzten paar Hundert Fuß zu sehen und eine sehr gute Vorstellung davon zu bekommen, aus welcher Richtung das Licht kam.
    Und natürlich hatte ich einen unfairen Vorteil, da ich die Ebene der Umlaufbahn des außerarbrischen Raumschiffs kannte und wusste, vor welchem der Fixsterne es vorbeifliegen würde. Indem ich meine Kulle mit einer Hand hochhielt, bildete ich daraus eine Art Schirm, der nur einen geringen Teil des Lichts von der Klippe durchließ. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und nach kurzer Zeit konnte ich die Sterne wieder sehen.
    Und dann sah ich es über den Himmel kurven, genau da, wo ich es vermutet hatte: ein roter Lichtpunkt, umgeben von einem körnigen Nimbus, der durch seinen Eintritt in die Atmosphäre verursacht war. Ich zeigte darauf. Andere um mich herum bemerkten das und entdeckten den Punkt auch. Die Wiese wurde so still wie das Mynster während des Anathems.
    Die Sternschnuppe blinkte noch einmal und verschwand im Dunkel. Der rote Schein war weg.

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