Anathem: Roman
ging und die Sonnenstrahlen immer schräger einfielen, als die sterbenden Städte und zerstörten Bewässerungssysteme immer seltener wurden und die Landschaft zu einer mit Steinruinen durchsetzten Hochwüste geläutert war, kam mir allmählich der Gedanke, dass etwas anderes an mir nagte.
Ich hatte mich daran gewöhnt, dass Orolo tot war. Natürlich nicht buchstäblich tot und begraben, aber für mich tot. Genau das bewirkte Anathem: Es tötete einen Avot, ohne seinem Körper Schaden zuzufügen. Und jetzt, wo mir nur ein paar Stunden blieben, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen, war ich im Begriff, Orolo wiederzusehen. Soweit ich wusste, konnten wir ihn jederzeit erspähen, wie er einen dieser einsamen Felsen hinaufstieg, um sich auf nächtliche Beobachtungen vorzubereiten. Vielleicht erwartete uns aber auch sein ausgezehrter Körper unter einem Steinhaufen, den Dards aufgeworfen hatten, Nachfahren jener Leute, die Saunt Blys Leber gegessen hatten. So oder so konnte ich an nichts anderes denken, wenn ich im nächsten Moment mit so etwas konfrontiert werden konnte.
Cords Gesicht war mir zugewandt. Sie streckte die Hand nach einem Knopf aus und drehte die Musik leise, dann wiederholte sie etwas. Ich war in eine Art Trance geraten, die ich mit einer Bewegung zerstörte.
»Ferman ist am Nicknack«, erklärte sie. »Er möchte anhalten. Pinkeln und plaudern.«
Beides klang gut in meinen Ohren. Wir fuhren an einer Stelle hinaus, wo die Straße sich entlang einer bergab führenden Kurve weitete und wir ein Drittel des Gefälles hinter uns hatten, das uns im Lauf der folgenden halben Stunde in ein breites, bis zum Horizont reichendes Tal bringen würde. Das war kein Tal der feuchten, grünen Art, sondern ein Defekt in der Landschaft, wo vertrocknete Bäche endgültig starben und Springfluten ihre Wut an einer ausgedehnten Einöde austobten. Turmspitzen und Palisaden aus braunem Basalt schleuderten Schatten, deren Länge ihre Größe bei Weitem übertraf. Vielleicht zwanzig oder dreißig Meilen entfernt ragten zwei einzeln stehende Berge auf. Wir scharten uns um die Kartabla und überzeugten uns davon, dass sie zwei der drei Kandidaten waren, die wir zuvor ausgesucht hatten. Was den dritten betraf – nun, wie es aussah, hatten wir den gerade umfahren und durchstreiften jetzt seine unteren Hänge.
Ferman wollte mich in meiner Eigenschaft als Anführer sprechen. Ich schüttelte die letzten Fetzen meines Nahe-Komas ab, in das ich gesunken war, und richtete mich gerade auf.
»Ich weiß, ihr glaubt nicht an Gott«, begann er, »aber in Anbetracht der Art, wie ihr lebt, dachte ich, ihr würdet euch vielleicht am wohlsten fühlen bei …«
»Bazischen Mönchen?«, probierte ich es.
»Ja, genau.« Er war etwas erstaunt darüber, dass ich das wusste. Es war nur gut geraten. Als Sammann zuvor erwähnt hatte, dass Ferman mit einer »Bazischen Anlage« sprach, hatte ich mir eine Kathedrale oder jedenfalls etwas Stattliches vorgestellt. Da hatte ich allerdings die Landschaft hier noch nicht gesehen.
»Ist auf einem dieser Berge ein Mönchskloster?«, fragte ich.
»Auf dem näheren der beiden. Du kannst es ungefähr auf halber Höhe sehen, an der nördlichen Flanke.«
Mit einiger Hilfestellung von Ferman konnte ich eine Unterbrechung im Berghang erkennen, eine Art natürliche Terrasse, geschützt unter einer dunkelgrünen Sichel: Bäumen, nahm ich an.
»Ich war zur Klausur dort«, bemerkte Ferman. »Hab meine Kinder früher jeden Sommer hingeschickt.«
Der Begriff Klausur sagte mir nichts, bis mir klar wurde, dass ich mein ganzes Leben so lebte.
Ferman missdeutete mein Schweigen. Er drehte sich zu mir um und hob, die Handflächen nach außen, die Hände. »Also, wenn dir dabei nicht wohl ist, kann ich dir sagen, dass wir genug Wasser, Essen, Schlafsäcke usw. dabeihaben, um unser Lager aufschlagen zu können, wo wir wollen. Ich dachte nur …«
»Es ist vernünftig«, sagte ich, »falls sie Frauen akzeptieren.«
»Die Mönche haben ihr eigenes Kloster, getrennt vom Lager. Im Sommerlager halten sich aber immer Mädchen auf – und zum Personal gehören auch Frauen.«
Es war ein langer Tag gewesen. Die Sonne ging unter. Ich war müde. Ich zuckte die Achseln. »Wenn sonst zu nichts«, sagte ich, »wird es zumindest für ein oder zwei Geschichten gut sein, die wir erzählen können, wenn wir in Tredegarh ankommen.«
Lio und Arsibalt hatten sich in der Nähe aufgehalten. Kaum hatte Ferman Beller sich zum Gehen gewandt,
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