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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dafür, dass der Ort bewohnt war. Das Auffälligste war ein Spiegelteleskop auf einem hohen Sockel, der einst einen Funkturm getragen hatte. Dorthin gingen wir zuerst. Das Teleskop sah in mancher Hinsicht aus wie ein Kunstobjekt, das Cord oder einer ihrer Freunde in einer Schweißerei aus Schrott hätten herstellen können. Doch ein Blick in sein Inneres zeigte uns einen handgeschliffenen Spiegel, deutlich über zwölf Zoll im Durchmesser, der vollkommen aussah, und man konnte sich leicht vorstellen, dass er einen Polarachsenantrieb besaß, der aus wer weiß wo aufgetriebenen Motoren, Getriebekästen und Lagern zusammengestückelt worden war. Von dort aus konnte man mühelos einer Beweisspur quer über die Plattform und dann über eine Außentreppe zu einer unteren Plattform auf der südöstlichen Seite des Komplexes folgen. Diese war mit einem Fleischgrill, Tisch und Stühlen aus witterungsbeständigem Poly und einem Riesenschirm ausgestattet. Kinderspielzeug war mit einer für Kinder untypischen Ordentlichkeit in einer Polykiste verstaut, so als kämen hin und wieder, aber nicht jeden Tag Kinder hierher. Eine Tür führte aus diesem Innenhof in ein Kaninchengehege aus kleinen Räumen – kaum mehr als Gerätekammern -, aus denen jemand sich ein Zuhause gemacht hatte. Wer immer hier wohnte, Orolo war es nicht. Nach Phototypien an den Wänden zu urteilen war es ein älterer Mann mit einer etwas jüngeren Frau und mindestens zwei Generationen Nachkommen. Ikonen waren beinahe ebenso zahlreich wie Schnappschüsse, was eindeutig darauf hinwies, dass es sich um eine Deolatistenfamilie handelte. Diese Eindrücke hatten wir im Laufe einiger Sekunden gesammelt, als uns schlagartig klar wurde, dass wir gerade widerrechtlich das Haus eines Fremden betreten hatten. Wir kamen uns wie die letzten Dummköpfe vor, weil das ein so typischer Avotfehler war. Darauf gingen wir so schnell rückwärts wieder hinaus, dass wir uns fast gegenseitig umgerannt hätten.
    Der Boden des Innenhofs bestand aus einer glatten, künstlichen Steinplatte. Angesichts der Tatsache, dass Estemard ein so begeisterter Fliesenleger war, erschien es merkwürdig, dass er ihn nicht
verbessert hatte. Doch dann bemerkten wir eine Treppe, die zu einem Mauervorsprung führte, wo er aus gebrannten Ziegeln einen Brennofen gebaut hatte. Um ihn herum lagen die Überbleibsel von vielen Jahren Arbeit: Lehm, Gussformen, Töpfe mit Glasur und Tausende von Kacheln und Kachelscherben aus demselben Repertoire einfacher geometrischer Formen wie diejenigen, die die neue Waschküche in Edhar zierten. Estemard war noch nicht dazu gekommen, seinen Innenhof zu fliesen, weil er die perfekte Kachelkonfiguration noch nicht gefunden hatte. Er hatte das Teglon nicht gelöst.
    »Klinisch verrückt?«, fragte ich Lio. »Oder nur auf dem besten Weg dahin?«
    Kriskan kam einen anderen Weg herauf. Als er uns sah, erwähnte er, er sei noch an einer anderen, kleineren Behausung vorbeigekommen. Wir folgten ihm, als er um den südlichen Teil des Komplexes herum zurückging.
    Wir wussten sofort, was es war. Alle Merkmale eines stecknadelkopfgroßen Maths lagen deutlich vor uns. Er befand sich etwas abgelegen in einer Ecke und war nur über einen langen und etwas abenteuerlichen Pfad zu erreichen, an dessen Ende eine – hauptsächlich symbolische, da erst vor kurzem behelfsmäßig aus Polyplane und Sperrholz gefertigte – Schranke und ein Tor standen. Als wir durch das Tor traten, fanden wir uns in einer Umgebung wieder, in der wir uns vollständig zu Hause fühlten. Es war eine weitere nicht überdachte Steinplatte. Ein Immobilienmakler hätte sie vielleicht einen Innenhof genannt. Für uns war das ein Miniaturklostrum. Sämtliche Überbleibsel des Säkularen waren sorgfältig beseitigt worden; übrig geblieben waren der alte gefleckte Stein und ein paar lebensnotwendige, zum Teil handgemachte Gegenstände: ein Tisch mit Stuhl unter einer schützenden Zeltplane, die über einen Rahmen aus mit mehreren Windungen Schnur zusammengefügten Holzbalken gespannt war. Ein rostiger Farbeimer stand in der Ecke, sein Deckel war mit einem Stein beschwert. Lio hob ihn hoch, rümpfte die Nase und verkündete, er habe Orolos Nachttopf gefunden. Er war leer und trocken. Die Asche auf dem Boden seiner Kohlenpfanne war kalt. Sein Wasserkrug war leer, und ein Holzschrank, der einmal zur Aufbewahrung von Lebensmitteln gedient hatte, war bis auf Gewürze, Küchengeräte und Streichhölzer restlos geleert

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