Anathem: Roman
gehabt, sich an die Anwesenheit eines Tausenders zu gewöhnen.
»Hier draußen tragen viele Leute Seitenwaffen, Lio.« Das war
Cord. »Mir ist klar, warum du das falsch verstanden hast, aber du kannst sicher sein, dass er nicht auf dich schießen wollte.« Niemand regte sich. »Auf jetzt, ihr Miesepeter, Zeit fürs Picknick!«
»Picknick?«, sagte ich.
»Wenn wir mit dem Gottesdienst fertig sind«, erklärte Estemard, »essen wir bei gutem Wetter im Freien.« Cords Vermittlung schien ihn etwas aufgemuntert zu haben.
Ich schaute zur Tür hinaus und machte Arsibalt, draußen im Innenhof, auf mich aufmerksam. Er runzelte die Stirn. Ja. Estemard war Deolatist geworden.
Im Konzent hatten wir uns Efferaten immer als langhaarige, wild aussehende Männer vorgestellt, aber Estemard hatte etwas von einem pensionierten Apotheker, der eine Tageswanderung macht.
Estemard betrachtete mich eingehend. »Du musst Erasmas sein«, sagte er. Damit schien für ihn etwas bereinigt zu sein. Er atmete tief durch und schüttelte die letzten Überreste des Schocks ab, der ihn gepackt hatte, als Lio ihn zu Boden beförderte. »Ja. Ihr seid alle zu dem Picknick eingeladen, sofern ihr versprecht, niemanden anzugreifen.« Als er sah, wie der Einwand von meinem Gehirn bis zu meinem Gesicht durchdrang, lächelte er und fügte hinzu: »Jedenfalls niemanden, der euch nicht vorher selbst angegriffen hat. Und ich glaube nicht, dass jemand von ihnen das tun wird; sie sind nachsichtiger mit Avot als ihr mit ihnen.«
»Wo ist Orolo?«
Fraa Jad, der immer noch mit dem Rücken zu uns dastand und sich gerade die Phototypien des Tagebaus anschaute, ließ uns alle zusammenfahren, als er seine Unterschallstimme anschlug: »Orolo ist nach Norden gegangen.«
Estemard war erstaunt; während er sich dann zusammenreimte, wie der Tausender darauf gekommen war, machte sich das Lächeln langsam wieder auf seinem Gesicht breit. »Fraa Jad hat recht.«
»Wir werden an dem Picknick teilnehmen«, verkündete Fraa Jad, wobei er das fluckische Wort wie mit der Kneifzange aussprach. »Lio, Erasmas und ich werden als Letzte hinunterfahren, im Fahrzeug von Ganelial Crade.«
Diese Anweisung sickerte nach draußen in den Innenhof durch. Leute drehten sich um und begaben sich wieder zu ihren Fahrzeugen. Lio nahm das Magazin aus der Waffe und gab beides getrennt Estemard zurück, der widerstrebend mit Kriskan abzog. Sobald sie
durch das behelfsmäßige Tor verschwunden waren, fing Fraa Jad an, die Blätter von der Wand zu rupfen. Lio und ich halfen ihm und gaben Fraa Jad alles, was wir gesammelt hatten. Die meisten Phototypien ließ er hängen, nahm aber diejenigen, die das große Loch zeigten, und reichte sie mir.
Der Tausender ging hinaus in Orolos Klostrum und stopfte die ganzen Blätter in die Kohlenpfanne. Dann griff er in Orolos Lebensmittelschrank und holte die Streichhölzer heraus. »Dem Etikett entnehme ich, dass das ein Werkzeug zum Feuermachen ist«, sagte er.
Wir zeigten ihm, wie man die Streichhölzer benutzte. Dann zündete er Orolos Blätter an. Wir standen alle um sie herum, bis sie zu Asche geworden waren. Am Ende verrührte er die Asche noch mit einem Stock.
»Zeit für das Picknick «, sagte er.
Als wir wie Flaschen in einer Kiste, die sich gegenseitig anrempelten und schubsten, auf der offenen Ladefläche von Ganelial Crades Hol die spiralförmige Straße abwärtsfuhren, konnten wir hin und wieder einen Blick nach unten erhaschen und sehen, dass das Picknick auf dem Dorfanger von Samble Formen annahm. Wie es schien, nahmen diese Leute ihre Picknicke nicht weniger ernst als ihre Gottesdienste.
Fraa Jad schien anderes im Kopf zu haben und sagte nichts, bis wir fast unten in Samble angekommen waren. Dann schlug er auf das Dach des Führerhauses und fragte Crade in Orth, ob es ihm etwas ausmachen würde, hier ein paar Minuten zu warten. In wirklich wildem, barbarisch klingendem Orth antwortete Crade, er habe nichts dagegen.
Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass jemand wie Crade unsere Sprache kennen könnte. Aber es klang plausibel. Die Antibazier misstrauten Priestern und anderen Mittelsmännern. Sie waren davon überzeugt, dass jeder die Schriften selbst lesen sollte. Fast alle lasen Übertragungen ins Fluckische. Der Gedanke lag aber gar nicht so fern, dass die Mitglieder einer besonders eifrigen und isolierten Sekte wie die Leute von Samble Klassisches Orth lernten, um ihre unsterblichen Seelen nicht mehr Übersetzern anvertrauen zu
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