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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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worden.

    Eine ausgeleierte Holztür führte zu Orolos Zelle, die im Wesentlichen genauso gestaltet war. Nur die Uhr war eindeutig modern, mit digitaler Leuchtanzeige bis auf die Hundertstelsekunde. Bücherregale aus alten Treppenstufen und Mauerblöcken trugen ein paar maschinengedruckte Bücher und von Hand beschriebene Blätter. Eine Wand war mit Blättern übersät: Diagramme und Aufzeichnungen, die Orolo dort mit nur leicht eingeschlagenen Heftzwecken fixiert hatte. Eine andere Wand war mit Phototypien bedeckt, von denen die meisten die verschiedenen Versuche zeigten, die Orolo unternommen hatte, mithilfe (wie wir vermuteten) des selbstgebauten Teleskops oben Bilder vom Raumschiff der Cousins zu machen. Das typische Exemplar eines solchen Bildes zeigte kaum mehr als einen dicken weißen Streifen vor dem Hintergrund dünnerer weißer Streifen: die Bahnen von Sternen. In einer Ecke dieses Mosaiks hatte Orolo allerdings mehrere damit in keinem Zusammenhang stehende Phototypien angeheftet, die er aus Publikationen herausgerissen oder mittels eines Synvors gedruckt hatte. Auf den ersten Blick schienen diese nichts anderes als ein großes Loch darzustellen: vielleicht ein Tagebau.
    Die übrigen Blätter bildeten ein überlappendes Mosaik, mit Linien, die von einem zum nächsten gezogen worden waren und ein baumartiges System von Verbindungen veranschaulichten. Das Blatt ganz oben war mit ORITHENA beschriftet. In der Nähe seines oberen Randes stand der Name Adrakhones geschrieben. Von diesem Blatt führte senkrecht nach unten ein Pfeil zu dem Namen Diax. Das war eine Sackgasse. Ein zweiter Pfeil dagegen, der schräg nach unten ging, zeigte auf den Namen Metekoranes, und von dort verzweigte sich der Baum zu Namen aus vielen Orten und Jahrhunderten.
    »Oje«, sagte Lio.
    »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, räumte ich ein.
    »Das ist Stammlinienkram«, warf Kriskan ein.
    Die Tür ging auf, und Gewalt brach sich Bahn. Nicht für lange – nach einer Sekunde war sie vorbei – und nicht heftig. Aber es war eindeutig Gewalt, und sie riss unser Denken so weit aus der Spur, in der wir uns bewegt hatten, dass wir ohne Frage nicht so bald zu ihr zurückkehren würden.
    Ein Mann stürmte durch die Zellentür herein, und Lio warf ihn zu Boden. Als es vorbei war, saß Lio auf der Brust des Mannes
und untersuchte mit äußerster Faszination eine Schusswaffe, die er soeben aus einem Holster an der Hüfte des Mannes gezogen hatte. »Hast du Messer oder so etwas?«, fragte Lio, während er zur Tür schielte. Es kamen noch mehr Leute, allen voran Barb.
    »Runter von mir!«, brüllte der Mann. Es dauerte einen Moment, bis uns aufging, dass er Orth sprach. »Gib mir das zurück!« Wir bemerkten, dass er ziemlich alt war, obwohl er sich, als er zur Tür hereingekommen war, mit dem Schwung eines jüngeren Mannes bewegt hatte.
    »Estemard trägt eine Waffe«, verkündete Barb. »Das ist hier Tradition. Sie betrachten es nicht als Drohung.«
    »Nun, dann wird Estemard sich bestimmt nicht bedroht fühlen, wenn ich die hier trage«, entgegnete Lio. Er ließ sich rückwärts von Estemard herunterrollen und stand auf, in der Hand die zur Decke gerichtete Waffe.
    »Ihr habt hier nichts zu suchen«, sagte Estemard, »und was meine Waffe angeht, solltest du mich lieber damit erschießen oder sie mir zurückgeben.«
    Lio dachte nicht daran, sie zurückzugeben.
    Ich war fast die ganze Zeit über so schockiert und dann so verwirrt gewesen, dass ich reglos dagestanden hatte. Vor lauter Angst, etwas Falsches zu tun, hatte ich lieber gar nichts getan. Doch dann drängte mich der Anblick meiner Freunde zum Handeln, denn ich wollte nicht den Eindruck erwecken, sprachlos und unentschlossen zu sein. »Da du gerade behauptet hast, wir hätten hier nichts zu suchen«, bemerkte ich, »eine Behauptung, der wir übrigens nicht zustimmen, wäre es nicht in unserem Interesse, dich mit Waffen auszustatten.«
    Inzwischen drängten noch weitere Mitglieder unserer Peregringruppe in den Innenhof. Fraa Jad kam herein, stieß Estemard beiseite, erfasste mit einem Blick die Zelle und fing an, die Blätter und Phototypien, die Orolo an die Wand geheftet hatte, zu studieren. Das ließ Estemard viel wirkungsvoller als die Tatsache, von Lio niedergeworfen oder von mir geebnet worden zu sein, zu der Erkenntnis kommen, dass er nichts gegen uns ausrichten konnte. Er wurde irgendwie kleiner, wendete den Blick ab. Im Gegensatz zu uns anderen hatte er nur ein paar Minuten Zeit

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