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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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erdrosselt. Er war trotzdem verhaftet und für sehr lange Zeit (»sein halbes Leben«) in den Kerker gesperrt worden, wo er darauf wartete, dass sein Fall vor einen Richter käme. In dem Prozess hatte er seine Schuld zugegeben. Der Richter hatte gefragt, ob es irgendeinen Grund gebe, warum er nicht hingerichtet werden dürfe. Der Verurteilte hatte geantwortet, es gebe einen Grund, einen, der ihm während all der Jahre im Kerker gekommen sei. Während er über seine abscheulichen Verbrechen nachgedacht habe, sei ihm eines nie aus dem Sinn gegangen, nämlich der Mord an dem Mädchen – der Unschuldigen -, habe in ihr doch das Potential gelegen, so viele Dinge zu tun, die nun niemals Wirklichkeit werden würden. In jeder Seele, argumentierte der Verurteilte, liege die Fähigkeit, eine ganze Welt zu erschaffen, so groß und vielfältig wie die, in der er und der Richter lebten. Wenn das aber für die Unschuldige gelte, gelte es genauso für den Verurteilten, und deshalb dürfe er – dürften auch alle anderen – nicht hingerichtet werden.
    Nachdem er das gehört hatte, äußerte der Richter Zweifel, dass der Verurteilte wirklich das Zeug hatte, eine ganze Welt hervorzubringen. Als Antwort auf diese Herausforderung hatte der Verurteilte begonnen, die Geschichte einer Welt zu erzählen, die er sich ausgedacht hatte, und von deren Göttern, Helden und Königen zu berichten. Damit war er erst am Abend fertiggeworden, sodass der Richter den Prozess vertagt hatte. Zuvor hatte er jedoch den Verurteilten gewarnt, dass sein Schicksal immer noch in der Schwebe sei, da die von ihm erfundene Welt ganz genauso voller Kriege, Verbrechen
und Grausamkeit sei wie die, in der sie lebten. Der Vollstreckungsaufschub des Verurteilten sei nur so gut wie die Welt, die er erfunden habe. Falls die verschiedenen Schwierigkeiten in dieser Welt nicht am nächsten Tag zu einer befriedigenden Lösung gebracht werden könnten, würde er bei Sonnenuntergang hingerichtet.
    Am nächsten Tag hatte der Verurteilte versucht, den Richter zufrieden zu stellen, und auch etwas Boden gut gemacht, dabei jedoch neue Probleme eingeführt und neue Figuren auftreten lassen, die moralisch nicht weniger zweifelhaft waren als die erste Gruppe. Der Richter fand keine ausreichenden Gründe, ihn hinrichten zu lassen, und so hatte er den Prozess am nächsten Tag fortgesetzt, und am nächsten und am nächsten.
    Die Welt, in der ich mit Jesry, Lio und Arsibalt, Orolo und Jad, Ala und Tulia und Cord lebte, war genau die Welt, die in diesem Gerichtssaal von Tag zu Tag im Kopf des Verurteilten erfunden wurde. Früher oder später würde das alles in einem Schlussurteil des Richters enden. Falls diese – falls unsere – Welt ihm insgesamt wie ein annehmbarer Ort erschien, würde er den Verurteilten leben lassen, und unsere Welt würde in seinem Kopf weiterexistieren. Falls unsere Welt alles in allem nur die Verderbtheit des Verurteilten widerspiegelte, würde der Richter ihn hinrichten lassen, und unsere Welt würde aufhören zu existieren. Wir konnten den Verurteilten am Leben erhalten und damit unsere eigene Existenz und die unserer Welt bewahren, indem wir uns stets bemühten, sie zu einem besseren Ort zu machen.
    Deswegen hatte Alwash – der kräftige Fremde – mir seine Kleider gegeben. Er versuchte, das Ende der Welt abzuwenden.
    Kelx war eine Zusammenziehung des Orthwortes mit der Bedeutung »Dreiecksort«. Dreiecke spielten in der Ikonographie dieses Glaubens eine Rolle. In der soeben wiedergegebenen Geschichte kamen drei Schlüsselfiguren vor: der Verurteilte, der Richter und die Unschuldige. Der Verurteilte stand für ein kreatives, aber fehlerbehaftetes Prinzip. Der Richter für Urteilsvermögen und Tugend. Die Unschuldige für Inspiration, die die Kraft hatte, den Verurteilten zu erlösen. Für sich genommen, fehlte jeder von ihnen etwas, aber als Dreiheit hatten sie uns und die Welt erschaffen. Auseinandersetzungen über die Art dieser Dreiheit hatten hundert Kriege ausgelöst, letztlich glaubten aber alle an die eine oder andere Interpretation
der ursprünglichen Geschichte. An diesem Punkt in ihrer Entwicklung stand die Kelx sehr stark unter der Knute anderer Religionen und war besonders bitter und apokalyptisch geworden. Die Voraussetzung für die ganze Religion war, dass der Richter sich früher oder später entscheiden würde, und so konnten die Magister – wie die Geistlichen der Kelx genannt wurden – ihre Herden bei Bedarf emotional aufpeitschen,

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