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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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indem sie behaupteten, das Urteil stehe kurz bevor.
    Die heutige Predigt war ein Beispiel dafür. Bei der Kelx gab es keine langen komplizierten Rituale wie bei den Baziern. Der Gottesdienst bestand aus einer Tirade von Magister Sark, gefolgt von Gesprächen mit den Kedews, und schloss mit einer weiteren Tirade. Er wollte wissen, was jeder einzelne Mann in der Kabine (wir waren alle Männer) in letzter Zeit getan hatte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Wir mochten alle mit Fehlern behaftet sein – wie auch sonst, waren wir doch dem Bewusstsein eines Vergewaltigers und Mörders entsprungen – und besaßen aufgrund der reinen Inspiration, die die Seele des Verurteilten von der Unschuldigen im Augenblick ihres Todes empfangen hatte, dennoch die Macht, die Welt auf eine Weise besser zu machen, die dem alles sehenden und alles wissenden Richter gefallen würde.
    So verrückt das alles war, irgendwie fand ich es in meinem geschwächten Zustand verlockend und wagte das Experiment, eine Weile mitzuspielen. Das mag für einen Avot sehr untypisch klingen, aber wir waren es gewohnt, mit sonderbaren kosmographischen Hypothesen konfrontiert zu werden, und in unserer Theorik taten wir genau das ständig: Wir nahmen rein theorisch an, dass eine Hypothese zutraf, und schauten dann, wohin das führte.
    Die Geschichte von dem verurteilten Mann kannte ich schon fast mein ganzes Leben lang, aber wie ich nun in dieser Kabine saß, erfuhr ich zwei Dinge über den Glauben – oder zumindest diese Sekte -, die ich noch nicht gewusst hatte. Erstens, dass die Ereignisse in unserer Welt, die nebeneinander geschahen (wobei alle Menschen zur selben Zeit jeweils etwas anderes taten), von dem Verurteilten zerlegt und dem Richter nacheinander erzählt wurden. Da es nicht möglich war, die Geschichten von Milliarden gleichzeitig zu erzählen, teilte er sie in kleinere, besser überschaubare Einheiten und erzählte sie eine nach der anderen. So war dem Richter zum Beispiel meine Reise mit Brajj, Laro und Dag den Gletscher hinunter
als eine in sich geschlossene Geschichte dargeboten worden, nach der der Verurteilte in der Zeit zurückgegangen war und erzählt hatte, was, sagen wir, Ala an diesem Tag gemacht hatte. Oder, falls Ala nichts Besonderes gemacht, also vor keinen großen Entscheidungen gestanden hatte, konnte es auch sein, dass der Verurteilte gar nichts über sie gesagt hatte und sie damit fürs Erste dem prüfenden Blick des Richters entgangen war.
    Die ganze Aufmerksamkeit des Richters galt immer nur einer solchen Geschichte. Wenn es sich gerade um die eigene handelte, war man der erbarmungslosen Prüfung durch den Richter ausgesetzt, der alles sah, was man tat, und alles wusste, was man dachte – sodass es in solchen Momenten wichtig war, die richtigen Entscheidungen zu treffen! Wenn man die Kelxgottesdienste oft genug besuchte, entwickelte man einen sechsten Sinn dafür, wann die eigene Geschichte dran war, und wurde besser darin, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
    Zweitens war die Inspiration, die im Augenblick ihres Todes von der Unschuldigen auf den Verurteilten übergegangen war, wie ein Virus. Von ihm breitete sie sich in jeden von uns aus. Jeder hatte dieselbe Macht, ganze Welten zu erschaffen. Die Hoffnung war, dass eines Tages ein Erwählter kommen und eine Welt hervorbringen würde, die vollkommen war. Falls das je passierte, würden nicht nur er und seine Welt, sondern all die anderen Welten und deren Schöpfer bis hin zu dem Verurteilten rückwirkend gerettet.
    Als Sark den Blick auf mich richtete und mich fragte, was ich in letzter Zeit zur Rettung der Welt getan hätte, begann ich in dem Bemühen, das Spiel mitzuspielen, eine überarbeitete Version der Geschichte vom Abstieg über den Gletscher zu erzählen. Dabei verzichtete ich auf die Erwähnung von Kulle, Kord und Sphär. Eigentlich wollte ich auch Dags Tod – oder besser die Tatsache, dass wir ihn als tot zurückgelassen hatten – überspringen. Doch wie ich so erzählte, sah ich mich außerstande, die Geschichte ohne diesen Teil wiederzugeben. Er fiel einfach aus mir heraus, wie Gedärm, das aus dem Bauch eines verletzten Tieres herausquillt. Das Ganze war außer Kontrolle geraten. Ich hatte vorgehabt, es wie eine Art intellektuelles Gesellschaftsspiel zu betreiben, aber meine Emotionen hatten die Oberhand gewonnen und mir diktiert, was ich sagen sollte. Irgendetwas an der ganzen Aufmachung dieser Arch war, wie ich (zu spät) bemerkte, dazu

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