Anathem: Roman
gedacht, solche Emotionen auszunutzen.
Ich war nicht der erste Fremde, der in eins dieser Treffen hineinspazierte und sein Herz ausschüttete. Sie erwarteten es. Sie rechneten damit. Genau deshalb hatte die Kelx zweitausend Jahre überdauert.
Als ich fertig war, schaute ich in der Annahme, einen triumphierenden Blick in seinen Augen zu sehen, zu Alwash hinüber. Ja, er hatte mich drangekriegt. Aber er schaute ganz und gar nicht so. Nur ernst und ein wenig traurig. So als hätte er gewusst, was passieren würde. Als hätte er es selbst getan. Als wäre es ihm angetan worden.
Die anschließende Stille war lang, aber ich empfand sie nicht als unangenehm. Dann sagte Magister Sark zu mir, es sei nicht klar, ob ich unter den gegebenen Umständen überhaupt etwas Falsches getan hätte. Ich verstand das so, dass die Geschichte von Brajj, »Vit«, Laro und Dag, hätte der Verurteilte sie dem Richter erzählt, nicht zu seiner Hinrichtung geführt hätte. Schlimmstenfalls war es eine neutrale Zeugenaussage. Ich fühlte mich dadurch ungeheuer erleichtert, und im nächsten Moment hasste ich mich dafür, dass ich mich von einem Medizinmann emotional manipulieren ließ.
Falls ich immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen hätte, schloss Sark, sollte ich versuchen, das nächste Mal, wenn der Verurteilte es für angebracht hielt, in diesem himmlischen Gerichtshof von meinen Angelegenheiten zu berichten, besser dazustehen.
Einige von den anderen hatten dem Richter noch schlimmere Geschichten zu erzählen. Manches von dem, was ich da hörte, konnte ich nicht glauben. Ich war nicht der Einzige in dieser Versammlung, der zum ersten Mal da war; am Grinsen auf den Gesichtern anderer konnte man erkennen, dass auch sie mehr oder minder hierher gezwungen worden waren. Ich hatte den Verdacht, dass einige ihre Geschichten schönten, nur um zu sehen, ob sie den Magister ausflippen lassen konnten.
Der Ablauf dieser Gottesdienste sah anscheinend vor, dass der Magister, nachdem alle Anwesenden vorgebracht hatten, was ihnen auf dem Herzen lag, das Ganze mit einem Knalleffekt zu Ende führte.
»Von alters her war es unsere Art, zu sagen, dass der Tag naht, an dem der Richter sein abschließendes Urteil spricht. Er naht immer . Aber heute sage ich euch, er ist hier . Zeichen und Omen haben es deutlich gemacht! Der Richter, oder sein Büttel, ist im Himmel droben gesichtet worden ! Er hat sein rotes Auge auf die Avot in ihren Konzenten gerichtet und sein Urteil über sie gesprochen. Nun
wendet er es uns Übrigen zu! Der so genannte Himmelswart ist vor ihn getreten, um seine inständigen Bitten zu formulieren, und der Richter hat ihn als das gesehen, was er ist, und ihn wutentbrannt hinausgeworfen! Was wird er mit euch machen, die ihr hier in dieser Kabine versammelt seid? Über wen wird der Verurteilte an seinem letzten Tag vor diesem Gericht sprechen? Wird er von dir, Vit, und deinen Taten erzählen? Wird er, um zu beweisen, dass er und alle seine Kreationen des Lebens würdig sind, von dir, Traid, oder dir, Theras, oder dir, Everell, erzählen? Werden es eure Taten am letzten Tag sein, die die Waage des Urteils in die eine oder andere Richtung werden ausschlagen lassen?«
Das war eine schwierige Frage – und das sollte es auch sein. Magister Sark hatte nicht die Absicht, sie zu beantworten. Stattdessen schaute er jedem Einzelnen lange und tief in die Augen.
Außer mir. Ich starrte gegen ein Schott. Versuchte, herauszubekommen, was das bedeutete. Der Richter war im Himmel gesehen worden? Der Himmelswart war wutentbrannt hinausgeworfen worden? Sollte ich diese Aussagen wörtlich nehmen?
Wenn dem Himmelswart etwas Schlimmes zugestoßen war, was hieß das für Jesry?
Ich wollte es unbedingt wissen, wagte aber nicht zu fragen.
Als es vorbei war, konnte ich mich vor Erschöpfung nicht rühren. Während die Kabine sich leerte, saß ich an einem Stahlschott zusammengesackt da und ließ die Schiffsmotoren mein Gehirn durchrütteln.
Einer der anderen Kedews hatte mit Alwash gesprochen. Als die Kabine fast leer war, kamen sie auf mich zu. Ich setzte mich auf und versuchte, meine Kraft zusammenzunehmen, um mich gegen eine weitere Predigt zu wappnen.
Dieser neue Bursche hieß Malter. »Was ich mich gefragt habe«, sagte Malter, »bist du einer von den Avot?«
Ohne mich zu rühren oder etwas zu sagen, versuchte ich, mich zu erinnern, was die Kelx von uns dachte.
»Ich frage deshalb«, fuhr Malter fort, »weil in der Stadt, bevor wir ausliefen,
Weitere Kostenlose Bücher