Anathem: Roman
Gerüchte umgingen, in den vergangenen Tagen sei ein verkleideter Avot den Gletscher heruntergekommen und in genau die Schwierigkeiten geraten, die du beschrieben hast.«
Ich war verblüfft. Aber nicht lange. Man konnte sich leicht vorstellen, wie Laro jedem, der ihm zuhörte, irres Zeug über sein
wunderliches und tragisches Abenteuer mit dem Avot, der sich Vit nannte, erzählte. Vielleicht zog ich eine Augenbraue hoch oder so etwas.
»Ich wollte schon immer einen Avot kennen lernen«, sagte Malter. »Ich glaube, es wäre eine Ehre.«
»Nun«, sagte ich, »soeben hast du einen kennen gelernt.«
Vot: Ein Avot. Extramuros verwendeter, abwertender Begriff. Assoziiert mit Säkularen, die sich Ikonographien anschließen, welche die Avot auf extrem negative Weise zeichnen.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
Mahsht war vier Mal so groß wie die Siedlung um Saunt Edhar und somit die größte Stadt, in die ich bislang auf meiner Peregrine – ja eigentlich in meinem Leben – gekommen war. Zur großen Verwunderung der Stammgäste auf diesem Schiff – der Leute, die ständig auf Verkehrsmitteln dieser Art in die Arktis und zurück fuhren – erhielten wir nicht die Genehmigung, wie gewöhnlich in den Hafen einzulaufen und an einem Kai festzumachen. Stattdessen mussten wir Abstand halten und im Außenhafen vor Anker gehen. Von der Brücke drang das Gerücht durch, in Mahsht sei durch Militärkonvois das Chaos ausgebrochen, und es würden stündlich neue Maßnahmen ausgearbeitet.
Einen Großteil des Tages verbrachte ich an Deck, schaute auf die Stadt hinüber und genoss es, in einem Teil der Welt zu sein, wo das Wetter nicht versuchte mich umzubringen. Obwohl Mahsht weiter im Norden lag als Edhar, auf fünfundsiebzig Grad nördlicher Breite, hatte es dank eines warmen Stroms im Ozean ein gemäßigtes Klima. Allerdings war es nicht warm, nur zuverlässig kühl. Wenn man eine Jacke anhatte und trocken blieb, war es durchaus erträglich. Wobei trocken zu bleiben zu einem richtigen Projekt ausarten konnte.
Mahsht war um einen Fjord herum gebaut worden, der sich in drei Arme gabelte, von denen jeder zu verschiedenen Hafenanlagen führte. Eine war für das Militär bestimmt, und dort herrschte ziemlich viel Betrieb. Eine war kommerzieller Natur. Sie war um das Ende des Praxischen Zeitalters herum als Umschlagplatz für Fracht
in Stahlkisten gebaut worden und hatte sich seitdem kaum verändert. Normalerweise hätte unser Schiff an einem Anleger in diesem Bezirk festgemacht. Die dritte war die älteste. Tausend Jahre vor der Rekonstitution, als Schiffe noch mit Windkraft fuhren und von Hand gelöscht wurden, hatte man sie aus Stein und Ziegeln erbaut. Anscheinend gab es immer noch Nachfrage nach solchen Einrichtungen, denn an seinen steinernen Docks herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von kleineren Schiffen.
Die alte Stadt und die Hafenanlagen waren auf einer aufgefüllten Schlammzone erbaut worden, durchschnitten von miteinander verbundenen Kanälen, schmal und unregelmäßig in Alt Mahsht, als gitterartige Wasserstraßen im Handelsviertel und im Militärbezirk. Viel von dem Land, das die Arme des Fjords trennte, war zu abschüssig, um darauf zu bauen. Auf den steinernen Spitzen und Kammlinien erhoben sich alte Schlösser, luxuriöse Kasinos und Radarstationen. Das Gelände außerhalb der Stadt war noch steiler: eine neblige grünschwarze Wand, aus der nicht zu erkennende Gebilde herausgekratzt waren, die in verrückten Winkeln eine Meile in den Himmel ragten. Alwash erklärte mir, dass Leute hierherkämen, um gegen eine Gebühr auf verdichtetem Schnee bergab zu gleiten. Auf mich übte das im Augenblick keinen Reiz aus.
Nach einem Tag kam ein Schleppboot heraus und brachte uns zu einem Kai in Alt Mahsht. Den Stammfahrgästen zufolge war das noch nie passiert – sie fuhren immer zum »neuen« Handelsund Geschäftsviertel. Also musste ich mir, sosehr mich auch die Funktionsweise des Schleppboots und die wechselnden Ansichten der Lagerhäuser, Archs, Kathedralen und des Zentrums von Alt Mahsht interessierten, Gedanken darüber machen, wie ich Cord, Sammann, Gnel und Yul finden – oder ihnen helfen könnte, mich zu finden. Sollte ich in der Annahme, dass sie dort auf mich warteten, zum Handelshafen gehen? Oder hatten sie wohl schon von den Verkehrsstörungen gehört und würden in Alt Mahsht nach mir suchen?
Kaum hatte ich den Landungssteg betreten, wurde mir klar, dass ich in Alt Mahsht richtig war. Da der
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