Anathem: Roman
militärische Teil der Stadt Unordnung nicht dulden konnte und das Geschäftsviertel sie unrentabel fand, war das ganze Chaos in die Altstadt verschoben worden, die zum Königreich zunichtegemachter Pläne und notwendiger Improvisationen geworden war. Da sämtliche ordentlichen Unterkünfte
der Stadt von beauftragten Firmen aus dem Süden angemietet worden waren, die mit dem Projekt der Verlegung von Militär in den Norden zu tun hatten, schliefen Leute in Mobos und Holen oder auf der Straße. Vor ihnen waren alle Türen verriegelt worden, und manche wurden bewacht, sodass diese Leute zu möglichst offenen Plätzen wie den Kais, unbebauten Flächen in der Schlammzone und Grundstücken, auf denen alte Lagerhäuser zugunsten nie in Angriff genommener neuer Projekte abgerissen worden waren, weitergeschleust wurden. Und genau dort spie der Landungssteg mich aus. Während ich die Rampe hinabschlurfte, suchte ich die Menge nach meinen Freunden ab. Je länger ich nach ihren Gesichtern Ausschau hielt, desto weiter wurde ich hinuntergeschoben und desto weniger konnte ich sehen. Dann war ich mitten im Gedränge und sah gar nichts mehr. Da ich keinen Plan hatte, ließ ich mich von der Menschenmenge treiben. Wenn ich Löcher oder Wirbel in der Strömung wahrnahm, schob ich mich hinein und blickte mich um. Aus dem bisher Gesagten könnte man auf die Idee kommen, dass es sich hier um einen Schauplatz schrecklicher Armut handelte, aber je mehr ich beobachtete, desto klarer wurde mir, dass es hier Arbeit gab, dass die Leute hierhergekommen waren, um sie zu finden, und dass das, was ich da sah – wovon ich ein Teil geworden war -, eine Form von Wohlstand darstellte. Junge Männer standen Schlange, um mit wichtigen Burschen zu sprechen, die ich für Käufer von Arbeitskraft hielt. Viele andere waren gekommen, um denen, die Arbeit gefunden hatten, Güter oder Dienstleistungen zu verkaufen, und so kochten Leute auf Karren oder offenen Feuern Essen, verhökerten geheimnisvolle Schätze aus ihren Manteltaschen oder legten ein ausgesprochen merkwürdiges Verhalten an den Tag, mit dem sie, wie mir allmählich bewusst wurde, zum Ausdruck brachten, dass sie ihre Körper verkaufen wollten. Alte, klapprige Busse schoben sich in weniger als Schrittgeschwindigkeit durch die Menge, um Fahrgäste aus- oder zusteigen zu lassen. Die einzigen Verkehrsmittel auf Rädern, die von irgendeinem praktischen Nutzen zu sein schienen, waren pedalbetriebene Fahrräder und Motorroller. Prediger verschiedener Archs postierten sich an Engstellen in der Strömung und brüllten frohe Botschaften und Prophezeiungen in knisternde Verstärker. Es gab eine Menge nicht eingesammelten Müll und Leute, die auf offener Straße ihre Notdurft verrichteten; ein Glück nur, dass es nicht wärmer war.
Das günstige Klima hatte schon seit langem Einwanderer angezogen, die einzeln oder in Wellen aus aller Welt kamen und in die Fjorde oder Bergtäler hinaufzogen, um nach ihren Vorstellungen dort zu leben. Mit der Zeit entwickelten sie ihre eigenen Kleidungsstile und sogar unterschiedliche Rassenmerkmale. Ich kaufte an einem Karren Essen – bei Weitem das beste, das ich seit meinem letzten Abendessen in Saunt Edhar bekommen hatte -, und während ich da stand und es verzehrte, beobachtete ich die vorüberziehende Menge. Langhaarige Gebirgsbewohner, immer allein. Eine riesige Familie, die sich in dichter Formation bewegte, Männer unter breitkrempigen Hüten, Frauen mit verschleiertem Gesicht. Eine gemischtrassige Gruppe, alle in roten Hemden, jeder Kopf – von Männern wie Frauen – kahlgeschoren. Eine Rasse, falls das das richtige Wort war, von großen Menschen mit knochigen Nasen und vorzeitig weiß gewordenen Haaren, die frische, in Polykisten voller Seetang verpackte Meeresfrüchte feilboten.
Nachdem ich eine Stunde an Land verbracht hatte, war klar, dass es leicht mehr als einen Tag dauern konnte, bis ich Cord, Sammann und die Crades gefunden hatte. So machte ich mir allmählich Gedanken darüber, wo ich diese Nacht verbringen würde – ich hatte nämlich endlich eine geographische Breite erreicht, wo die Sonne zu dieser Jahreszeit wenigstens für ein paar Stunden unterging. Ich wusste, dass es so hoch im Norden keine großen Konzente gab. Aber in einer Stadt, die so alt war wie diese, musste es zumindest einen kleinen Math geben – vielleicht sogar einen, der noch aus dem Alten Mathischen Zeitalter stammte. Mit der Frage beschäftigt, ob ich einen ausfindig machen und
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