Anathem: Roman
waren, hineinstürmten. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Dennoch lag etwas Vertrautes in ihren Gesichtern: Sie gehörten zur selben Volksgruppe wie Laro und Dag. Gheeths, wie Brajj sie genannt hatte.
Es fiel ihnen schwer, mit mir Schritt zu halten, aber ihren Stimmen konnte ich nicht davonlaufen: »Haltet ihn! Haltet den Vot!« Das schien keine große Wirkung zu haben. Doch dann wurden sie allmählich schlauer. »Mörder! Mörder! Haltet ihn!« Es stellte sich heraus, dass mir das die Flucht nur noch leichter machte, da sich niemand einem kräftigen, rennenden Mörder in den Weg stellen wollte. Deshalb wurde daraus: »Dieb! Dieb! Er hat einer alten Frau das Geld gestohlen!« Da drängte die Menge sich dicht zusammen, und die Leute fingen an, mir ein Bein zu stellen, um mich zu Fall zu bringen.
Ein paar davon übersprang ich, aber es war klar, dass ich diesen überfüllten Platz verlassen musste, und so schlug ich mich in die nächstbeste Seitenstraße und von dort in eine Gasse. Diese war so schmal, dass ich beide Häuserseiten gleichzeitig berühren konnte, aber zumindest hatte ich nicht das Gefühl, in einer gewaltigen, feindseligen Menge unterzugehen.
Ich hörte das Brummen von Rollermotoren. Sie verfolgten mich. Einheimische jugendliche Rollerfahrer, die sich in dem Gassengewirr auskannten, organisierten sich, um mich an der nächsten Kreuzung abzufangen.
Ich versuchte es an ein paar Türen, aber sie waren verschlossen. Dann machte ich den Fehler, dasselbe unter den Augen eines bewaffneten Wachpostens zu tun, der ein paar Türen weiter vor einer Wechselstube stand. Er nahm eine Waffe von der Schulter und murmelte irgendetwas in seinen Kragen hinein. Ich zog mich zurück, nahm die nächste Seitengasse, die ich fand, und rannte sie hundert Schritt weit hinunter bis zu einem Punkt, wo sie einen schmalen Kanal überspannte. Genau in dem Moment, als ich die Brücke erreichte, fuhren zwei Rollerfahrer hinauf, um sie zu blockieren. Mit einem Blick nach unten sah ich, dass der schlammige Kanalboden teilweise frei lag. Es musste Ebbe sein. Ohne nachzudenken, sprang ich hinunter, landete im weichen Schlamm und rollte auf die Füße; ich verspürte zwar Schmerzen, hatte mir aber wohl nichts gebrochen. In eine Richtung beschrieb der Kanal eine Kurve zurück zum Marktplatz. Die andere führte in die offene Landschaft: ans Wasser. Ich fing an, in diese Richtung zu laufen, denn ich dachte, falls ich den Strand erreichte, könnte ich mir vielleicht eine Fahrt auf einem kleinen Boot erschleichen oder erbetteln. Selbst zu schwimmen wäre sicherer, als unter diese Menge zu fallen.
Im Schlamm konnte ich jedoch nicht besonders schnell laufen. Und erschöpft war ich sowieso. Ich hatte das Atmen vergessen. Alle paar hundert Fuß überspannten Brücken den Kanal, und ich konnte sehen, wie sich Menschen auf den Brücken vor mir sammelten und aufgeregt mit den Fingern auf mich zeigten.
Ich drehte mich um und sah eine noch größere Menschenmenge auf der Brücke hinter mir. Sie hatten Flaschen und Steine parat. Unter diesen Brücken hindurchrennen zu wollen, wäre Selbstmord gewesen. Die Kanalwand war zwar senkrecht, das Mauerwerk jedoch alt und grob gehauen; ich versuchte, an ihm hochzuklettern. Rollerlärm kam von allen Seiten, und dann traf mich etwas oben am Kopf.
Kurz darauf erwachte ich in knietiefem Wasser mitten im Kanal und kam nach Luft schnappend hoch, nur um in einem Dutzend Sekunden von ebenso viel Steinen und Flaschen getroffen zu werden.
»Halt! Halt! Der Vot geht nirgendwohin. Schließt ihn weiter ein«, sagte eine Art selbsternannter Anführer: ein gedrungener Gheeth mit wirrem Haar. »Unser Zeuge ist fast hier!«, verkündete er.
Also warteten wir alle auf den »Zeugen«. Die Menge sortierte sich neu. Die meisten von ihnen waren Passanten, die von ihrer Neugier oder der Überzeugung, bei der Festnahme eines Taschendiebs zu helfen, auf die Brücken oder an die Kanalufer getrieben worden waren. Dieser Teil der Menge verlief sich wieder oder wurde von Neuankömmlingen beiseitegedrängt: Gheeths mit Nicknacks. Als dann wenig später der Zeuge hinten auf einem pedalbetriebenen Taxi eintraf, waren hundert Prozent derjenigen, die da auf mich herabstarrten, Gheeths. Und keiner von ihnen hielt mich für einen Taschendieb. Aber wofür hielten sie mich dann? Ich hatte den Verdacht, dass das die meisten von ihnen nicht einmal kümmerte.
Der Zeuge war Laro. Sein Bein befand sich in einem nach militärischem Vorbild
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