Anathem: Roman
meine ganzen Überredungskünste einsetzen sollte, um hineinzukommen, ging ich eine breite Straße entlang, die vom Hafenviertel bis hinauf zur bazischen Kathedrale führte, und suchte die Fassaden alter Gebäude nach mathischer Architektur oder anderen Hinweisen auf ein Klostrum ab.
Dabei fiel mir ein Spulocorder auf, der an einen schwarzen Laternenpfahl geklemmt war, und das erinnerte mich an Sammann und seine Fähigkeit, Daten von solchen Geräten zu bekommen. Vielleicht war ich ganz falsch vorgegangen. Es konnte sein, dass Sammann mich auf den Spulocordern verfolgte, meine Freunde mich bis jetzt aber nicht einholen konnten, weil ich immer unterwegs war. Also beschloss ich, mich eine Zeitlang an einem deutlich sichtbaren Ort aufzuhalten und zu sehen, ob das etwas nützte. Gerade hatte
ich Malter und Alwash getroffen, die mir die Adresse eines Kelxmissionsheims gegeben hatten, wo ich im Notfall schlafen könnte, und solange ich das als Möglichkeit in der Hinterhand hatte, fand ich, dass es das Risiko wert war, irgendwo zu sitzen und zu warten. Dazu wählte ich den großen Platz vor der Kathedrale, unmittelbar in Reichweite eines Spulocorders, der an der Fassade der Stadthalle von Alt Mahsht angebracht war.
Und dort wurde ich überfallen.
Jedenfalls dachte ich zuerst, es sei ein Überfall. Meine Aufmerksamkeit war von einem Straßenkünstler und dessen Turnübungen, ungefähr fünfzig Fuß entfernt, in Anspruch genommen. »Hey Vit!«, sagte jemand rechts hinter mir. Ich drehte mein Gesicht direkt einer heransausenden Faust zu.
Während ich auf dem Boden lag, riss mir jemand den Pullover aus der Hose, um meinen Bauch freizulegen. Aus irgendeinem Grund musste ich an Lio denken, der bei der Apert besiegt worden war, nachdem die Dards ihm die Kulle über den Kopf gezogen hatten. Deshalb machte ich, statt mein Gesicht zu schützen, wie ich es hätte tun sollen, einen unbeholfenen Versuch, meinen Pullover wieder hinunterzuziehen. Die Hände von jemandem machten sich da unten zu schaffen und rissen mir etwas aus dem Hosenbund.
Es waren meine Kulle, meine Kord und meine Sphär. Ich hatte sie zu einem ordentlichen Päckchen verschnürt, zur sicheren Aufbewahrung in meine Hose gesteckt und mit dem Pullover bedeckt.
In Bodenhöhe hat man eine erbärmliche Aussicht. Insbesondere, wenn man in Embryonalstellung auf einer Seite liegt und aus dem Augenwinkel heraus nach oben schaut. Es sah aber so aus, als spielten zwei Männer mit dem Päckchen, das sie mir geklaut hatten, Tauziehen, indem sie versuchten, es auseinanderzubekommen. Die Kord löste sich spiralförmig, und die Kulle, die ich zu einer Konfiguration mit dem Namen Die Achtfache Hülle gefaltet hatte, fiel auf. Heraus purzelte meine auf Pillengröße geschrumpfte Sphär. Ich fing sie, als sie zum zweiten Mal aufsprang. Da landete ein Fuß auf meiner Hand. »Er versucht, sie zu benutzen!«, rief jemand. Ein Mann stand über mir und ließ sich auf mich fallen. In dem Moment übernahm ein Reflex die Führung. Lio hatte mir beigebracht, dass man, wenn erst einmal jemand rittlings auf einem säße, nie mehr hochkäme; als ich spürte, was passierte, drehte ich mich also auf den Bauch und zog die Knie an, sodass ich dem Mann, als er mit
seinem ganzen Gewicht auf mir landete, nicht den Bauch, sondern den Hintern zuwendete und die Beine unter mir hatte, wo ich sie benutzen konnte. Meine Hand steckte immer noch unter irgendeinem Fuß, aber meine Sphär war zwischen meiner Hand und dem Pflaster gefangen. Ich ließ sie größer werden. Die sich ausdehnende Sphär zwang den Fuß des Mannes nach oben, und als sie Kopfgröße erreicht hatte, rollte der Fuß einfach herunter, und meine Hand war frei. Ich setzte sie unter meinem Körper auf und stemmte mich, so fest ich konnte, mit Armen und Beinen nach oben. Während ich hochkam, schlang der Bursche auf mir die Arme um meinen Rumpf, aber ich packte einen seiner kleinen Finger und bog ihn mit einem Ruck nach hinten. »Er hat mich verhext!«, schrie jemand. »Der Vot hat mich verhext!«
Ein Teil von mir – nicht der klügere – hätte diesem Burschen gerne erklärt, was für ein Idiot er war, aber der Großteil von mir wollte einfach nur Abstand zwischen mich und diese mysteriösen Angreifer bringen. Woher hatten sie gewusst, dass ich den Namen Vit benutzte? Ich drehte mich noch einmal zu ihnen um. Auf meinem Weg durch die Menge hatte ich eine Gasse hinter mir freigelassen, in die jetzt mehrere Männer, die hinter mir her
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