Anathem: Roman
halten nicht nach Peregrins Ausschau.«
»Es erschiene mir ungastlich«, sagte ich, »sollte Orithena, von wo die ersten Peregrins fortgingen, seine Tore nicht einem öffnen, der zurückgekehrt ist.«
»Wir sind der Regel verpflichtet, nicht irgendeinem Brauch der Gastlichkeit. In der Stadt gibt es Hotels; Gastlichkeit ist ihr Geschäft.« Die kleine Klappe machte ein Geräusch, als wäre Dymma im Begriff, sie zu schließen.
»Welcher Teil der Regel erlaubt es Avot, extramuros Seife zu verkaufen?«, fragte ich. »An welcher Stelle besagt die Regel, dass Fraas in Kulle in dieser Stadt umherspazieren dürfen?«
»Deine Rede straft deine Behauptung Lügen, ein Avot zu sein«, sagte Dymma, »denn ein Fraa wüsste, dass es von einem Math zum anderen Abwandlungen der Regel gibt.«
»Viele Avot wüssten es nicht, da sie ihre eigenen Mathe nie verlassen«, wandte ich ein.
»Eben«, sagte Dymma, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich im Dunkeln diebisch darüber freute, mein Argument so geschickt zu ihrem Vorteil gewendet zu haben – denn ich war draußen, wo Avot nicht sein sollten.
»Ich räume ein, dass eure Bräuche von denen der übrigen mathischen Welt abweichen können«, fing ich an.
Sie unterbrach mich. »Nicht so sehr, dass wir einen einlassen würden, der das Gelübde nicht abgelegt hat.«
»Hat denn Orolo das Gelübde abgelegt?«
Ein paar Sekunden Stille. Dann schloss sie die Klappe.
Ich wartete. Nach einer Weile drehte ich mich um, winkte meinen Freunden zu und mimte ein großes Achselzucken. Es war seltsam schwierig, die Verbindung zu ihnen wiederherzustellen, und sei es auch nur in einer so einfachen Geste, nachdem ich einmal über die Schwelle des Maths geschaut hatte. Vor ein paar Minuten hatte ich ihnen Lebewohl gesagt, als wäre ich zum Mittagessen zurück. Doch nach allem, was ich wusste, war es gut möglich, dass ich den Rest meines Lebens dort verbringen würde.
Wieder die Klappe. »Bring dein Anliegen vor, du, der du dich Fraa Erasmas nennst«, sagte ein Mann in Orth.
»Fraa Jad, Millenarier, möchte Orolos Meinung zu bestimmten Fragen wissen und schickt mich aus, ihn zu suchen.«
»Orolo, der verstoßen wurde?«
»Ebender.«
»Einer, dem das Anathem geläutet wurde, darf nie mehr einen Math betreten«, betonte der Mann. »Desgleichen darf einer, der evoziert und zur Konvox nach Tredegarh entsandt wurde, sich nicht
plötzlich an einem anderen Math auf der anderen Seite der Welt präsentieren.«
Die Antwort hatte ich bereits geahnt, bevor wir Ekba erreichten. Bestimmte Hinweise hatten meine These untermauert. Was für mich jedoch den Ausschlag gab, war seltsamerweise die Architektur des Ortes. Keinerlei Zugeständnisse an den mathischen Stil. »Das Rätsel, das du mir aufgibst, ist schwierig«, gab ich zu, »doch bei genauerer Überlegung ist die Antwort klar.«
»Aha? Und wie lautet die Antwort?«
»Das hier ist kein Math«, sagte ich.
»Was dann, wenn kein Math?«
»Das Klostrum einer Stammlinie, die tausend Jahre vor Kartas und ihrer Regel geboren wurde.«
»Du bist willkommen in Orithena, Fraa Erasmas.«
Schwere Riegel bewegten sich, und die Tür schwang auf.
Ich trat in Orithena ein, und in die Stammlinie.
In Saunt Edhar war Orolo etwas teigig geworden, obwohl er sich einigermaßen in Form hielt, indem er in seinem Weingarten arbeitete und die Stufen zum Sternrund hinaufkletterte. Auf Blys Koppie hatte er, Estemards Phototypien zufolge, einiges von diesem Gewicht verloren, einen Zottelkopf bekommen und sich den obligatorischen Efferatenbart wachsen lassen. Doch als ich ihn an den Toren von Orithena hochhob und fünf Mal herumwirbelte, fühlte sein Körper sich fest an, weder fett noch abgemagert, und als ich ihn schließlich wieder absetzte, hinterließen Tränen feuchte Spuren auf seinen gebräunten, glattrasierten Wangen. Das war alles, was ich sah, bevor meine Sicht von Tränen verschleiert wurde, und dann musste ich mich losreißen und im Schatten der großen Mauer auf und ab gehen, um mich wieder zu fangen. Die Regel hatte mich nichts darüber gelehrt, wie man mit einem solchen Ereignis fertig wurde: die Arme um einen Toten zu schlingen. Vielleicht bedeutete es, dass auch ich für die mathische Welt jetzt tot und in eine Art Jenseits übergewechselt war. Cord, Yul, Gnel und Sammann hatten mir als Sargträger gedient.
Es bedurfte einer gewaltigen Willensanstrengung, mich zu erinnern, dass sie immer noch draußen waren und sich fragten, was vor sich ging.
Es
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