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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Baumes, der im Frühjahr nach dem Vulkanausbruch gepflanzt worden sein musste. Orolo erklärte mir, diese Bäume, die nicht größer waren als ich, seien praktisch die ältesten lebenden Dinge auf Arbre.
    Ein Großteil unserer Gespräche an diesem Nachmittag bestand aus solchem Reiseführerzeug. In gewisser Weise war es sehr entlastend, über Vögel und Bäume zu plaudern, darüber, wie viele Kubikfuß Lehm aus dem Loch herausgeholt und wie viele der Tempelgebäude
ausgegraben worden waren, statt über so schwerwiegende Angelegenheiten wie die Geometer, die Konvox und die Stammlinie zu sprechen. Später wanderten wir wieder hinunter und aßen im Refektorium mit vielleicht hundert Fraas und Suurs, die hier lebten, zu Abend. Ihr EUG, Fraa Landasher, der letzte von den Dreien, die mich am Tor befragt hatten, hieß mich offiziell willkommen und brachte einen Toast auf mich aus. Ich trank mehr als mein Teil von ihrem Wein, der um Längen besser war als das, was Orolo in seinem vom Frost geschädigten Weingarten in Saunt Edhar fabriziert hatte, und schlief in einer Einzelzelle meinen Rausch aus.
    Unzufrieden, verkatert und mürrisch erwachte ich und dachte, ich hätte verschlafen und wäre spät dran – aber nein, es war noch früh, und die Grabungsarbeiter der Nachtschicht kamen, fröhliche Marschlieder auf den Lippen, mit ihren Hacken, Spitzkellen, Pinseln und Notizbüchern aus der Grube. Sie hatten ein Badehaus konstruiert, wo aus den vulkanischen Quellen abgezweigtes heißes Wasser durch senkrechte Schächte geleitet wurde, in denen man sich in Sekundenschnelle von dem harten Strahl säubern lassen konnte. Ich stand in einem davon, bis ich nicht mehr atmen konnte, dann trat ich hinaus und ließ meine Neustoffkulle das Wasser von meiner Haut ziehen. Das half ein wenig. Was mich aber wirklich aus dem Konzept brachte, war der Schock des Wiedereintritts in die mathische Welt mit ihrer Auffassung von Zeit, die so anders war als das, woran ich mich extramuros gewöhnt hatte. Verschlimmert wurde er dadurch, dass mir bisher niemand die Regeln erklärt hatte, die an diesem Ort galten. In nahezu jeder Hinsicht war er wie ein kartasischer Math. Allerdings hatten sie mich kein Gelübde ablegen lassen, und ich bekam das Gefühl, jederzeit zur Tür hinausspazieren zu können. Sie taten nur so , als wäre es ein Math, wenn sie mit jemandem zu tun hatten, der es vielleicht nicht verstand. Avot zu sein, war ihr Deckmantel. Und dennoch war es keine Lüge, denn sie hatten sich ihrer Arbeit genauso verschrieben wie alle, die in Saunt Edhar lebten. Vielleicht insofern noch mehr, als sie nicht duldeten, dass diese Arbeit durch Regeln behindert wurde, und sich nicht dem Diktat irgendeiner Inquisition beugten.
    Fraa Landasher fing mich ab, als ich aus dem Badehaus kam, und machte mich mit Suur Spry bekannt, einem Mädchen ungefähr in meinem Alter. Oder vielmehr, machte mich wieder mit ihr bekannt, da sie die erste Person gewesen war, mit der ich gestern am Tor gesprochen
hatte. Sie erinnerte mich auf beunruhigende Weise an Ala. Jetzt oder nie, erklärte mir Landasher, könne ich hinuntersteigen und die Ruinen sehen, denn wenn wir noch länger warteten, würde es zu heiß werden. Suur Spry sollte meine Führerin sein; sie hatte einen Korb mit Essen für unterwegs gepackt. Ihnen war deutlich die Erwartung ins Gesicht geschrieben, mich hellauf begeistert zu sehen. Was wäre auch vernünftiger gewesen? Dennoch musste ich Dankbarkeit heucheln, denn was ich wirklich wollte, war, Orolo wecken und mit ihm über drängende säkulare Angelegenheiten sprechen.
    Ohne zu wissen, was am Tor passieren könnte, hatte ich tags zuvor mit Cord, Yul, Gnel und Sammann vereinbart, dass sie, falls man mir Zutritt gewährte, eine Stunde warten und dann, falls nichts dazwischenkäme, nach drei Tagen wieder da sein sollten; dann würde ich versuchen, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, was als Nächstes zu unternehmen sei. Ich hatte das Gefühl, dass meine drei Tage nur so verflogen, und wollte deshalb in Wirklichkeit nicht mit einem Mädchen, das ich gerade erst kennen gelernt hatte, auf eine lange touristische Wanderung gehen. Verdrossen betrat ich, Suur Sprys Picknickkorb am Arm, die Rampe nach unten.
    In einer vollkommen anderen Stimmung kam ich jedoch am Grund der Grube an, streifte meine Sandalen ab und spürte unter den bloßen Füßen die Platten, auf denen Adrakhones gewandelt war. Die Tempelstufen, auf denen Diax seinen Rechen geschwungen hatte. Das

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