Anathem: Roman
gab einen kleinen Springbrunnen im Klostrum. Orolo schöpfte
mir eine Kelle Wasser. Wir saßen zusammen im Schatten des Glockenturms, während ich trank. Es schmeckte nach Schwefel.
Wo anfangen? »Es gibt so viel, Pa, was ich dir, wenn es möglich gewesen wäre, gesagt hätte, als du verstoßen wurdest. So viel, was ich dir in den darauffolgenden Wochen gerne gesagt hätte. Aber …«
»Es fließt alles zurück.«
»Wie bitte?«
»Mit der Zeit fließen all diese Dinge zurück, und dabei verändern sie sich – dein Bewusstsein verändert sie -, sodass die Notwendigkeit, über sie zu sprechen, nicht mehr ganz so groß ist. Gut. Lass uns über das sprechen, was frisch und interessant ist.«
»In Ordnung. Du siehst gut aus.«
»Du nicht. Ehrenhaft erworbene Narben, hoffe ich?«
»Eigentlich nicht. Habe aber eine Menge gelernt.« Im Grunde war mir jedoch nicht danach, ihm die Geschichte zu erzählen. Ein paar Minuten lang ergingen wir uns in seichtem Geplauder, bis wir beiden merkten, wie lächerlich das war, dann standen wir auf und fingen an herumzustreichen. Ein jüngerer Fraa – wenn das überhaupt die richtige Bezeichnung für jemanden war, der in einem Math-der-kein-Math-war lebte – brachte mir eine Kulle und eine Kord, die ich gegen meine säkularen Kleider eintauschte. Dann führte Orolo mich vom Klostrum weg einen breiten, von zahllosen sandalenbewehrten Füßen und Schubkarren befestigten Pfad entlang an den Rand einer Grube, die groß genug war, das Mynster von Saunt Edhar mehrmals zu verschlucken. Wenn wir unser Monument errichtet hatten, indem wir vom Boden aus Stein auf Stein setzten, so hatten sie ihres gebaut, indem sie Schaufelladung für Schaufelladung nach unten gruben. Die Wände des Lochs waren zu steil, der Boden zu lose, um stabil zu sein; sie waren mit Platten aus geschmolzener Asche abgestützt worden. Eine Rampe führte spiralförmig bis auf den Boden. Ich machte Anstalten, sie hinunterzugehen, doch Orolo hielt mich zurück. »Dir wird auffallen, dass kein Mensch da unten ist. Je weiter du hinuntergehst, desto heißer wird es. Wir graben nachts. Wenn du unbedingt einen Spaziergang machen möchtest, werden wir bergauf gehen.« Und er zeigte den Berg hinauf.
Ich wusste bereits von Sammanns Bildern und der Erkundungsfahrt vom Vortag, dass Orithena über zwei Mauersysteme verfügte, ein inneres und ein äußeres. Entlang der Straße, wo das Haupttor
stand, kamen sie zusammen. Die riesige, zwanzig Fuß hohe Mauer umschloss das Klostrum, wo die Avot lebten, und das Loch im Boden, in dem sie ihre Ausgrabungen machten. Die äußere Mauer war viel niedriger – vielleicht sechs Fuß hoch – und damit eher symbolisch als irgendetwas sonst. Sie reichte Tausende Fuß bergauf und umfasste einen Streifen Land, der sich bis ganz hinauf zur Caldera des Vulkans zog. Aus den Bildern ging deutlich hervor, dass ganz oben an der Spitze Bergwerksarbeiten vorgenommen worden waren, vielleicht, um aus der Hitze des Vulkans Energie zu gewinnen. Deshalb schätzte ich, dass es dort heiß, übelriechend und gefährlich sein würde. Das Gelände dazwischen jedoch – das Orolo und ich durchwanderten – war durch die mühevolle Arbeit der Stammlinie in eine Oase verwandelt worden. Irgendwie hatten sie Wasser gefunden und mit dessen Hilfe Wein und Getreide angebaut und alle Arten von Bäumen gepflanzt, die Früchte und Öle lieferten und dabei auch noch gesprenkelten Schatten auf den Bergpfad warfen. Mit jedem Schritt fiel die Temperatur leicht, und der Wind frischte auf. Die Anstrengung des Aufstiegs hielt mich warm, doch als wir eine passende Höhe erreicht hatten, um anzuhalten, die Aussicht zu genießen und die Früchte zu kosten, die wir entlang des Weges geklaut hatten, trocknete mein Schweiß sofort in dem kühlen Seewind, und ich musste die Kulle fester um mich ziehen.
Wir ließen die Obstgärten von Orithena hinter uns und wanderten weiter bergauf durch einen Gürtel verdrehter, knorriger Bäume zu einer abschüssigen Wiese, die mit etwas bestäubt war, was aus der Ferne wie Reif ausgesehen hatte. Tatsächlich war es aber ein Teppich aus kleinen weißen Wildblumen, die es irgendwie geschafft hatten, hier zu wachsen. Farbenfrohe Insekten flogen umher, aber es gab nicht so viele davon, dass es unangenehm gewesen wäre. Ich nahm an, dass sie von Vögeln in Schach gehalten wurden, die auf verkrüppelten Bäumen und in üppig wuchernden Dornensträuchern sangen. Wir saßen auf der freiliegenden Wurzel eines
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