Anathem: Roman
ist«, sagte Orolo mit einem Klaps auf seinen Bauch, »außerhalb davon jedoch nur Luft.«
»Ja. Ich denke, jedes bewusste Wesen sollte in der Lage sein, die Fleisch-Luft-Grenze zu erkennen. Was sich innerhalb dieser Grenze befindet, ist Orolo.«
»Komisch, dass du so genau weißt, wozu bewusste Wesen in der Lage sein müssten«, warnte mich Orolo. »Lass mal sehen … was ist hiermit?« Er hielt eine Falte seiner Kulle hoch.
»Genau wie ich die Fleisch-Luft-Grenze beschreiben kann, kann
ich beschreiben, inwiefern Kullenstoff sich sowohl von Fleisch als auch von Luft unterscheidet, und erklären, dass Orolo in Kullenstoff gehüllt ist.«
»Hier stellst du Vermutungen an!«, tadelte mich Orolo.
»Nämlich welche?«
»Sagen wir, dem Geometer, mit dem du sprichst, ist das Äquivalent des makronischen Denkens in seiner Zivilisation eingeimpft worden. Er würde sagen: ›Warte mal, Dinge an sich kannst du eigentlich nicht kennen und darfst über sie keine Aussagen machen – nur über deine Wahrnehmungen .‹«
»Stimmt.«
»Also musst du deine Behauptung mithilfe der Gegebenheiten, die dir tatsächlich zur Verfügung stehen, neu formulieren.«
»Also schön«, räumte ich ein, »statt zu sagen: ›Orolo ist in Kullenstoff gehüllt‹, werde ich sagen: ›Wenn ich Orolo von da, wo ich gerade stehe, betrachte, sehe ich hauptsächlich Kulle, aus der Teile von Orolo – sein Kopf und seine Hände – herausragen.‹ Ich verstehe aber nicht, warum das wichtig ist.«
»Es ist wichtig, weil der Geometer nicht da stehen kann, wo du stehst. Er muss woanders stehen und mich aus einem anderen Blickwinkel betrachten.«
»Ja, aber die Kulle hüllt doch deinen ganzen Körper ein!«
»Woher weißt du, dass ich am Rücken nicht nackt bin?«
»Weil ich viele Kullen gesehen habe und weiß, wie sie funktionieren.«
»Wenn du aber ein Geometer wärst und zum ersten Mal eine sähest …«
»Wäre ich dennoch imstande zu vermuten, dass du am Rücken nicht nackt bist, weil deine Kulle sonst anders hängen würde.«
»Wenn ich nun die Kulle abgelegt hätte und nackt hier stünde?«
»Was wäre dann?«
»Wie würdest du mich dann dem Geometer beschreiben? Was hättest du vor Augen, und was der Geometer?«
»Ich würde zu dem Geometer sagen: ›Von da, wo ich stehe, sehe ich nur Orolohaut. Von da, wo du stehst, o Geometer, ist es wahrscheinlich genauso.‹«
»Und warum ist es wahrscheinlich?«
»Weil ohne Haut dein Blut und deine Eingeweide herausfallen würden. Da ich hinter dir keine Lache aus Blut und Eingeweiden
sehen kann, kann ich schlussfolgern, dass deine Haut an Ort und Stelle ist.«
»Genau wie du aus der Art, wie der sichtbare Teil meiner Kulle hängt, schlussfolgerst, dass sie hinten um mich herum reichen muss.«
»Ja, ich nehme an, es ist dasselbe allgemeine Prinzip.«
»Nun, wie es scheint, ist dieser Prozess, den du Bewusstsein nennst, doch etwas komplizierter, als du ihm anfangs zugestanden hast«, sagte Orolo. »Man muss in der Lage sein, Gegebenheiten von einer spärlichen Decke aus Wahrscheinlichkeitswellen in einem Vakuum aufzunehmen …«
»Das heißt, Sachen zu sehen.«
»Ja, und sich des Tricks bedienen, diese Gegebenheiten in scheinbar beständige Objekte zu integrieren, die im Bewusstsein gehalten werden können. Das ist aber nicht alles. Du nimmst nur eine Seite von mir wahr, ziehst aber die ganze Zeit Schlüsse über meine andere Seite – dass meine Kulle hinten weitergeht, dass ich Haut habe -, Schlüsse, die ein angeborenes Verständnis theorischer Gesetze widerspiegeln. Anscheinend kannst du diese Schlüsse nicht ziehen, ohne in deinem Kopf kleine Gedankenexperimente zu vollziehen: ›Wenn die Kulle nicht um den Rücken herumginge, würde sie anders hängen‹, ›wenn Orolo keine Haut hätte, würden seine Eingeweide herausfallen‹. In beiden Fällen benutzt du dein Wissen über die Gesetze der Dynamik, um ein kleines kontrafaktisches Universum in deinem Kopf zu erforschen, ein Universum, in dem Kulle oder Haut nicht da sind, und dann spulst du dieses Universum wie einen Spulo vor, um zu sehen, was passieren würde.
Und das ist nicht die einzige derartige Aktivität, die sich in deinem Geist abspielt, wenn du mich den Geometern beschreibst«, fuhr Orolo fort, nachdem er einen Moment innegehalten hatte, um einen Schluck Wasser zu trinken, »da du immer die Tatsache berücksichtigst, dass du und der Geometer an verschiedenen Orten steht, mich aus verschiedenen Richtungen seht,
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