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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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verschiedene Gegebenheiten aufnehmt. Von da, wo du stehst, kannst du vielleicht den kleinen Fleck auf der linken Seite meiner Nase sehen, aber du bist gewitzt genug, zu verstehen, dass der Geometer aufgrund seines Standorts diesen Fleck nicht sehen kann. Das ist eine andere Art und Weise, wie dein Bewusstsein ständig kontrafaktische Universen aufbaut: ›Wenn ich da stünde, wo der Geometer steht, wäre mir die Sicht auf den Fleck versperrt.‹ Deine Fähigkeit, dich in den Geometer
einzufühlen – dir vorzustellen, wie es wäre, jemand anders zu sein -, ist keine reine Höflichkeit. Es ist ein angeborener Prozess des Bewusstseins.«
    »Warte mal«, sagte ich, »du behauptest, ich könnte die Unfähigkeit des Geometers, den Fleck zu sehen, nicht voraussagen, ohne eine Kopie des gesamten Universums in meiner Vorstellung entstehen zu lassen?«
    »Keine genaue Kopie«, sagte Orolo. » Beinahe eine Kopie, in der alles gleich ist, außer der Stelle, an der du stehst.«
    »Mir scheint, es gibt viel einfachere Wege, zu diesem Ergebnis zu gelangen. Vielleicht habe ich eine Erinnerung daran, wie du von dieser Seite aussiehst. Diese Erinnerung rufe ich in meinem Gedächtnis wach und sage mir: ›Hm, kein Fleck.‹«
    »Das ist ein vollkommen einleuchtender Gedanke«, sagte Orolo, »aber ich muss dich warnen, dass es dir im Grunde nicht viel bringt, wenn das, was du suchst, ein einfaches und leicht verständliches Modell der Funktionsweise unseres Geistes ist.«
    »Warum nicht? Ich spreche nur vom Gedächtnis.«
    Orolo lachte vor sich hin, nahm sich dann zusammen und bemühte sich, taktvoll zu sein. »Bisher haben wir nur von der Gegenwart gesprochen. Nur vom Raum – nicht von der Zeit. Jetzt möchtest du Erinnerungen in die Diskussion einbringen. Du schlägst vor, Erinnerungen davon wachzurufen, wie du Orolos Nase zu einer anderen Zeit aus einem anderen Blickwinkel wahrgenommen hast: ›Ich saß gestern beim Abendessen rechts neben ihm und konnte den Fleck nicht sehen.‹«
    »Das erscheint mir ganz einfach«, sagte ich.
    »Du könntest dich fragen, was in deinem Gehirn dich zu solchen Dingen befähigt.«
    »Was für Dingen?«
    »An irgendeinem Abend beim Essen bestimmte Gegebenheiten in sich aufzunehmen. Und jetzt eine andere Reihe von Gegebenheiten zu erfassen – oder vor einer Sekunde – oder vor zwei Sekunden – aber immer jetzt! Und dann zu sagen, es handelte sich bei allen um denselben Burschen, Orolo.«
    »Ich verstehe nicht, was das Besondere daran ist«, sagte ich. »Es ist reine Mustererkennung. Das können syntaktische Vorrichtungen auch.«
    »Tatsächlich? Gib mir ein Beispiel.«

    »Nun … ich nehme an, ein einfaches Beispiel wäre …« Ich sah mich um und bemerkte zufällig den Kondensstreifen eines Luftfahrzeugs hoch über uns. »Radar, der an einem überfüllten Himmel Luftfahrzeuge verfolgt.«
    »Sag mir, wie das funktioniert.«
    »Die Antenne dreht sich. Sie sendet Impulse aus. Echos kommen zu ihr zurück. Anhand der Zeitverzögerung des Echos kann sie die Entfernung des unidentifizierten Flugobjekts berechnen. Und sie weiß, in welcher Richtung das Luftfahrzeug liegt – das ist kinderleicht, es ist genau die Richtung, in die die Antenne zeigt, wenn das Echo auf sie trifft.«
    »Sie kann immer nur in eine Richtung zeigen«, sagte Orolo.
    »Stimmt, sie hat einen ausgeprägten Tunnelblick, den sie dadurch ausgleicht, dass sie sich permanent dreht.«
    »Ein bisschen wie wir«, sagte Orolo.
    Wir hatten uns wieder an den Abstieg von dem Berg gemacht und gingen nebeneinanderher. Orolo fuhr fort: »Ich kann nicht gleichzeitig in alle Richtungen schauen, aber von Zeit zu Zeit werfe ich einen Blick zur Seite, um mich zu vergewissern, dass du noch da bist.«
    »Ja, das nehme ich an«, sagte ich. »Du hast ein Modell von deiner Umgebung im Kopf, das mich an deiner rechten Seite einschließt. Du kannst es für eine Weile bewahren, indem du die Schnellvorlauftaste gedrückt hältst. Hin und wieder musst du es aber mit neuen Gegebenheiten aktualisieren, oder es steht nicht mehr im Einklang mit dem, was wirklich vor sich geht.«
    »Wie bringt das Radarsystem das fertig?«
    »Nun, die Antenne rotiert ein Mal und erfasst Echos von allen Dingen, die im Himmel sind. Sie zeichnet ihre Positionen auf. Dann rotiert sie von Neuem und sammelt eine weitere Reihe von Echos. Die neue Reihe ist der ersten ähnlich. Nur befinden die unidentifizierten Flugobjekte sich jetzt alle in leicht veränderten Positionen, da sie sich ja

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