Anathem: Roman

nächsten Versuch richtig zu machen würde mich rascher zu meinen Freunden zurückbringen als drei überstürzte Versuche, die fehlschlugen. Ich stabilisierte mich so weit, dass sich der Reaktor in meinem unteren Blickfeld und gerade voraus befand, und zwang mich dann dazu, dreißig Sekunden lang nichts zu tun, außer ihn im Auge zu behalten und zu beobachten, inwiefern sich seine Bewegung von meiner unterschied.
    Definitiv ein Fehler in der Neigung seiner Orbitalebene. Ich musste die Feinsteuerraketen zünden, um diesen Fehler auszugleichen. Was ich auch tat – aber dabei verpfuschte ich mir meine große Bahnhalbachse und noch ein paar Elemente derart, dass es mich zehn Minuten später umgebracht hätte. Weitere sechzig Sekunden Gefummel brachten das wieder in Ordnung.
    Manöver zur Änderung der Ebene sind kostspielig.
    Ich zwang mich schon seit einer Weile, nicht mehr nach dem Ballon zu schauen. Teils, weil ich Angst davor hatte, was ich sehen würde – meine Zuflucht, meine Freunde, unmöglich weit weg. Teils aber auch, weil es schlicht keine Rolle spielte. Ohne den Reaktor, dessen Energie Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten würde, würden wir allesamt in wenigen Stunden ersticken. Wenn ich die Nerven verlor und mich ohne ihn zum Ballon zurückzog, wäre mein Eintreffen mit leeren Händen das Todesurteil für die gesamte Zelle.

    Ich kam ihm nahe, schwenkte aber im letzten Moment seitlich ab. Vollführte eine kleine Drehbewegung. Hielt an, wobei »anhalten« bedeutete, dass der Reaktor und ich in Bezug zueinander stillstanden. »Drei Minuten bis Sichtverbindung«, sagte die Stimme. Ich stupste die Steuerelemente ganz behutsam an und sah zu meiner Befriedigung, dass der Reaktor und ich uns aufeinander zu bewegten. Ließ es einfach geschehen. Versuchte, nicht so schnell zu atmen.
    Anstatt den Reaktor an den Haken zu nehmen, manövrierte ich mich einige Augenblicke lang so dicht an ihn heran, dass ich einfach mit der Skeletthand nach ihm greifen und das Netzgewebe packen konnte. Dann drehte ich mich in die Richtung, in der sich meiner Vermutung nach der Ballon befinden könnte, und sah – nichts. Oder vielmehr zu viel. Unsere Tarnstrategie war nach hinten losgegangen. Auf diese Entfernung hatte ich keine Möglichkeit, wahr von falsch zu unterscheiden. Drei Ballons befanden sich in etwa gleicher Entfernung von mir – keiner näher als zehn Meilen. Selbst wenn ich richtig raten würde, wäre ich nicht imstande, ihn in drei Minuten zu erreichen. Und wenn ich falsch riete, würde ich, um hinzukommen, für die Feinsteuerraketen so viel Treibstoff verbrauchen, dass ich dort nicht mehr wegkäme.
    Andererseits: Die Umlaufbahn, in der ich und der Reaktor uns befanden, war stabil. Ich überprüfte sämtliche Werte doppelt, da unser aller Leben von meiner Beurteilung der Situation abhing. Form und Durchmesser der Umlaufbahn waren so, dass wir nicht in die Atmosphäre eintreten und verglühen würden, jedenfalls nicht vor Ablauf von ein, zwei Tagen.
    Und wenn ich nun einfach dabeibliebe? Mein Sauerstoffvorrat reichte noch für etwa zwei Stunden, aber ich konnte ihn dadurch strecken, dass ich mich ein wenig beruhigte. Ich wusste mit Sicherheit, dass das vorliegende Problem in der Neigung der Umlaufbahn bestand – dem Winkel, in dem der Reaktor und ich nun im Hinblick auf den Äquator standen. Unsere Neigung war etwas steiler als die meiner Kameraden. Infolgedessen würde meine Bahnkurve nur an zwei Stellen mit der von Zelle 317 übereinstimmen – zwei Schnittpunkten, die sich alle fünfundvierzig Minuten auf gegenüberliegenden Seiten des Planeten ergaben. Ungefähr so wie bei der sprichwörtlichen stehengebliebenen Uhr, die zweimal am Tag stimmt. Das letzte Mal hatte sie vor ungefähr fünfzehn Minuten gestimmt, als der Reaktor beinahe meine Freunde getroffen und ich
seine Verfolgung aufgenommen hatte. Seither hatten wir uns weiter auseinanderbewegt. Aber in wenigen Minuten würden wir wieder beginnen, einander näherzukommen. Und in einer halben Stunde kamen wir in den Genuss eines weiteren Beinahezusammenstoßes.
    »Eine Minute bis Sichtverbindung.«
    Der Schlüssel zu allem: Was dachten meine Freunde? Was sagten sie im Augenblick über das drahtlose Ret? Ich hatte Arsibalts Stimme sagen hören, dass der Reaktor auf der falschen Ebene war. Wahrscheinlich hatten sie mit wachsender Angst zugesehen, wie ich davongetrieben war, und darüber debattiert, ob sie ein Rettungsteam losschicken sollten.
    Nein, das