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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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bisschen hastiger vorgegangen wäre, als ich den Reaktor erreicht hatte, und versucht hätte, ihn zurückzuschleppen? Dann wären wir alle draufgegangen.
    Ich machte mir schon wieder Sorgen. Eigentlich war es noch schlimmer – sogar noch sinnloser. Anstatt mir um die Zukunft – die sich ändern ließ – Sorgen zu machen, machte ich mir über Dinge Sorgen, die in der Vergangenheit hätten schiefgehen können und sich sowieso nicht mehr ändern ließen.
    Sollten sich die Inkantoren beziehungsweise die Rhetoren darum kümmern.
    Wo waren jetzt eigentlich die ganzen Tausender? Hatten sie sich in einem Stadion versammelt und sangen?
    »Raz!«
    Ich schlug die Augen auf. Erlebte einen dieser Augenblicke, in denen ich einfach nicht dahinterkam, wo ich mich gerade befand – mir nicht begreiflich machen konnte, dass der Raumflug kein Traum gewesen war.
    »Raz!«
    Auf dem Display war ein Ikon zu sehen: Fraa Jesry.
    »Hier«, sagte ich.
    »Es ist toll, deine Stimme zu hören!«, rief er aus, und er klang enorm erleichtert.
    »Tja, ich bin tief gerührt, dass du das sagst, Jesry …«
    »Halt die Klappe. Ich bin im Anflug. Schaff die Decke aus dem Weg, damit du mitkriegst, was vor sich geht.«
    »Bist du sicher? Stehen wir denn nicht in Sichtverbindung?«
    »Nein.«
    »Ich glaube schon, dass wir in Sichtverbindung stehen, Jesry.«
    »Beim letzten Mal ja. Jetzt nicht.«
    »Beim letzten Mal?«
    »Beim ersten Mal haben wir dich verpasst. Haben zwar deinen Weg gekreuzt, aber der Höhenunterschied war zu groß. Haben keinen Funkkontakt mit dir gekriegt.«
    »Das ist unser zweiter Versuch?« Ich überprüfte die Zeit. Er hatte recht. Neunzig Minuten – nicht fünfundvierzig – waren vergangen.
Meine Sauerstoffanzeige stand auf Rot. Ich hatte das erste Rendezvous verschlafen!
    Ich wischte die Decke zur Seite. Sah in einer Meile Entfernung einen Ballon, der rasch größer wurde. Darunter versteckt ein unansehnliches Gebilde aus aufgepumpten Greifarmrohren, an denen Dutzende von roten und blauen Netzgewebeknäueln hingen. Nahebei hielten ein paar Gestalten in Raumanzügen auf Mannjifieks Position, alle so gedreht, dass sie in meine Richtung blickten. Die Reihe von Ikons leuchtete auf, als ich mich wieder ins Retikel einklinkte. Aber keiner sprach, außer Jesry. Er war allein zu mir herausgekommen.
    »Wenn ich es nicht schaffe, bleib ruhig und warte«, sagte er. »Es gibt zwei Ausweichpläne.«
    »Aber den Besten haben sie als Ersten geschickt, was?« Ich stieß mich ganz sanft von dem Reaktor ab und schoss einen Greifarm in seine Netzgewebewolke.
    »Danke, aber für das, was du getan hast, darfst du angeben, was das Zeug hält, Raz.« Jesry war in Reichweite geschwebt. Er drehte sich herum, sammelte sich und fuhr seinerseits einen Greifarm aus.
    »Vielleicht können wir angeben, wenn wir alt sind«, sagte ich. »Was soll ich tun?«
    »Positiv radial ausrichten«, sagte er. Das bedeutete, dass wir uns, anstatt wie zuvor mit dem Gesicht in Richtung unserer Orbitalbewegung zu zeigen, um neunzig Grad drehen mussten, sodass wir Arbre den Rücken zukehrten. Ich tat wie geheißen und stieß leicht gegen Jesry, als die Drehbewegung uns nebeneinander brachte.
    »Rotiere um fünfundvierzig Grad abwärts und zünde einen Brennstoß von fünfzehn Sekunden«, sagte Jesry.
    Fünfzehn Sekunden waren enorm und würden uns, falls die Berechnungen nicht stimmten, weit vom Kurs abbringen, ohne dass wir noch Treibstoff zur Rückkehr hätten. Aber ich tat es. Zog nicht einmal in Erwägung, dem Vorschlag nicht zu folgen. Ich hatte es mit Jesry zu tun. Er hatte sich ganz gelassen angesehen, wie ich losgezogen war, um den Reaktor zu bergen. Hatte im Kopf die Theorik berechnet und sie mit der Synvor dreifach überprüft. Ich drehte mich und zündete. Verlor dabei den Sichtkontakt.
    »Ihr kommt auf uns zu, als würden wir euch an einer Angelschnur einholen«, verkündete Sammann. Aber im Grunde genommen musste ich nur seinen Tonfall hören.

    »Unternehmt nichts«, warnte uns Lio. »Ihr kommt unter uns durch – wir nehmen euch an den Haken …« Und einen Augenblick später verrieten mir zwei plötzliche Rucke und ein Jubelruf der anderen, dass man uns eingefangen hatte. Ich nahm die Finger von den Bedienungsknöpfen der Feinsteuerraketen, damit meine zitternden Hände sie nicht versehentlich zündeten, und ließ uns von Lio und Osa einholen.
    »Raz, du bist in Sicherheit«, sagte Lio. »Sammann, letzter Sternencheck, bitte?«
    »Wir werden immer noch von

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