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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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hatten sie nicht getan. Lio hatte keinen solchen Befehl gegeben. Und sie hatten auch der Versuchung widerstanden, den Fernfunk einzuschalten.
    Hätte ich es mit anderen Leuten zu tun gehabt, hätte weder ich ihre, noch hätten sie meine Gedanken lesen können. Aber meine Fraas waren von Orolo großgezogen und ausgebildet worden. Sie hatten begriffen – wahrscheinlich eher als ich -, dass der Reaktor in fünfundvierzig Minuten auf der anderen Seite von Arbre wieder auftauchen würde. Und, was ebenso wichtig war, sie verließen sich darauf, dass ich das ebenfalls begriff und entsprechend handelte – sie vertrauten mir ihr Leben an.
    Und was hieß »entsprechend handeln«? Es hieß, die Ruhe zu bewahren und die Umlaufbahn, in der ich mich befand, nicht zu verändern. Wenn ich nichts unternahm, würden sie meine Position vorausberechnen können. Wenn ich dagegen etwas täte, hätten sie keine Möglichkeit, meinen Verbleib zu bestimmen.
    An Notfallausrüstung hatte ich nicht viel: bloß eine Decke aus metallbeschichtetem Poly – wie die Notfalldecke, die man nach seinem Anathem an Orolo ausgegeben hatte -, die vorn an das Oberteil meines Anzugs geklebt war. Sie sollte, falls erforderlich, verhindern, dass das Sonnenlicht mit voller Kraft auf unsere mattschwarzen Anzüge traf und sie überhitzte, denn dann würde die Kühlung mehr leisten müssen und entsprechend mehr Sauerstoff verbrauchen. Ich pulte meine Decke los – mit Skeletthänden nicht einfach -, deckte damit so gut es ging den Reaktor ab und schlüpfte darunter.
    »Sichtverbindung hergestellt.«
    Angenommen, sie schauten auf der Daban Urnud in ihre Teleskope, dann konnten sie mich jetzt sehen, wenn auch nur als einen
von vielen Brocken Müll, den die zweihundert Raketen in den Raum befördert hatten. Stanniolspreu.
    Nüchtern betrachtet lag die Sache doch so: Die Daban Urnud war etwa vierzehntausend Meilen entfernt. Im Punkt ihrer stärksten Annäherung an Arbre sah der ganze Planet für sie so groß aus wie ein Kuchen, den man auf Armeslänge von sich weghält. Im Punkt der weitesten Entfernung hatte er die Größe einer Untertasse. Meine ausgebreitete Decke auf diese Entfernung sehen zu wollen glich dem Versuch, aus hundert Meilen Abstand ein Kaugummieinwickelpapier auszumachen. Schlimmer noch – oder für mich besser -, es war, als betrachtete man ein ganzes, mit Abfall übersätes Feld und versuchte, aus alledem ein einzelnes Einwickelpapier herauszugreifen.
    Andererseits hatte Lio – der Exosphärische Waffensysteme des Praxischen Zeitalters in die Konvox mitgebracht hatte – uns ermahnt, nicht übermütig zu werden, und Jules hatte der Mahnung zusätzliches Gewicht verliehen, indem er uns erzählt hatte, dass die Urnuder, ehedem Meister der Kriegführung im All, Synvors mit erstklassigen Teleskopen verbunden hatten und so in der Lage gewesen waren, riesige Mengen von Bildern zu sichten, um Dinge zu finden, die nicht stimmig aussahen. Attrappen beispielsweise waren leicht zu entdecken, weil sie normalerweise nichts weiter waren als Ballons, auf die sich der Strömungswiderstand der dünnen Atmosphäre wegen ihrer enormen Größe und ihres geringen Gewichts viel stärker auswirkte als auf echte Nutzlasten.
    Die Umlaufbahnen von Attrappen verhielten sich also etwas anders als die von Nicht-Attrappen. Sobald die Urnuder überdies eine Zählung des gesamten, von den zweihundert Raketen in den Raum geschossenen Materials vorgenommen hatten, waren sie in der Lage, festzustellen, ob irgendetwas plötzlich nicht mehr da war oder seine Umlaufbahn änderte. Das nämlich konnte nur geschehen, wenn es über Feinsteuerraketen und ein Lenkungssystem verfügte.
    In dieser Hinsicht hatten wir die Mission also bereits vermasselt. Wir mussten darauf bauen, dass die große Zahl Sicherheit bot: auf die Hoffnung, dass das plötzliche Verschwinden meiner Decke aus der Müllwolke nicht so rasch bemerkt wurde, dass der Sockel etwas unternehmen konnte.
    Doch ich griff den Ereignissen vor. Damit diese Decke plötzlich verschwinden konnte, musste es zuerst zum Rendezvous mit den anderen kommen.

    Mit Sauerstoff wäre das leichter. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu entspannen und nicht an den Sockel und seine bewunderungswürdigen Teleskope und Synvors zu denken. Ich hatte es mit dem seltenen Fall zu tun, dass es mich tatsächlich umbringen konnte, wenn ich mir zu viele Sorgen machte.
    Sobald sich mein Puls auf einen vernünftigeren Wert verlangsamt hatte, tippte ich

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